Karlas Umweg: Roman (German Edition)
Schweißtropfen sich mit Tränen des Mitgefühls mischten. Sein ganzes tiefes künstlerisches Empfinden lag in diesem Ausdruck, der hinter der Schminke nur noch schmerzlicher, echter und tiefer empfunden wirkte. Es war mitreißend.
Marie klagte nun: »Den gab’s nur einmal, der kommt nicht wieder!«
Angestachelt durch so viel künstlerischen Ausdruck sang ich mit unvermindert temperamentvollem Hüftschwung, dass er der Husar gewesen sei, hurra, er war der Husar! Ich swingte und rockte noch, als der Nebel um meine Waden sich längst gelichtet hatte und die Windmaschine ihren Propeller ruhen ließ. Völlig außer Atem hielt ich inne.
»Danke, gestorben!«, rief Tim Wolke und stob aus seiner Ecke, um die soeben am Horizont erschienene Sonja Ritter zu begrüßen.
Marie bekam erwartungsgemäß eine entsetzliche Krise, kaum dass wir mit unserem Auftritt fertig waren. Schon im Auto fing sie fürchterlich an zu weinen und schrie uns an, dass wir alle wie billige Prostituierte gehandelt hätten: unsere Seele verkauft, für sechshundert Mark unsere Musikalität verleugnet, uns hinreißen lassen, zur Stimme der Blauhügel den Mund zu öffnen und auf einer PAPPGEIGE – hier überschlug sich ihre Stimme so sehr, dass der Taxifahrer hilflos an den Rand fuhr und darauf wartete, dass sie sich beruhigen würde – zu geigen, nur weil sie golden war!!
Wozu sie, Marie, seit zehn Jahren täglich Singen übte, ihren Mann und ihr Kind vernachlässigte – hier stellte ich erstaunt fest, in welchem Zusammenhang sie diese Tatsache erstmalig erwähnt! –, wenn das Ergebnis ihrer Bemühungen sei, dass sie nur stumm den Mund auf und zu klappen müsse, für das profane Volk einer Donnerstagabend-Show!! Ich vermied zu erwähnen, dass meine Eltern das Ganze sogar im Wäschekeller anschauen – das würde die unendlich trostlose Profanität der ganzen Sache noch unterstreichen. Matulka stieg aus dem Taxi und meinte, wenn der hysterische Anfall vorbei wäre, würde er wiederkommen, und sie hämmerte mit den Fäusten gegen die Scheibe und schrie, ER hätte ihr diese unendliche Demütigung eingebrockt! Sie habe sich auf das Niveau irgendwelcher billigen Windmaschinen-Nutten begeben – damit meinte sie hoffentlich nicht mich – und Tim Wolke habe sie hinterher gar nicht mehr beachtet, was ich bezeugen kann. Er habe nur an Sonja Ritters Hand herumgeküsst und Marie sei ein Niemand für ihn gewesen. Das war bitter. Gernhaber schlug sich gedanklich sofort auf Maries Seite, indem er schweigend und leidend seine Stradivari streichelte, als handele es sich um eine überfahrene Katze. Dann trat ein, was ich die ganze Zeit gefürchtet hatte. Der Taxifahrer forderte Marie auf, seinen Wagen zu verlassen. Betrunkene, Randalierende und hysterische Weiber, äußerte er unpassend, sei er nicht verpflichtet zu transportieren.
Marie sprang aus dem Wagen, Gernhaber hinterher, und ich wollte auch gerade Fersengeld geben, als der Taxifahrer mir seine Pranke auf die Hand schlug und sagte: »Hier geblieben, Fräulein. Einer zahlt.«
»Gehen wir noch zu mir und üben die Solo-Arie«, wandte sich unterdessen Gernhaber an Marie. »Das wird dich auf schönere Gedanken bringen.«
Und während ich noch in meinem Portemonnaie, das ich in der Jeanstasche bei mir trug, nach dem passenden Kleingeld suchte, waren die beiden bereits in ein anderes Taxi gesprungen.
»Nimm’s nicht so schwer, Kleine«, sagte der Taxifahrer, nachdem auch ich seinen Wagen verlassen hatte. »Du warst am Ende in dem Spiel die Gewinnerin!«
Also, wenn ich in dem Spiel die Gewinnerin war, wie sieht dann erst ein Spiel aus, bei dem ich die Verliererin bin?
Nun sind wir schon wieder zwei Wochen unterwegs. Marie ist bester Laune. Sie liebt dieses Konzertleben und die Turbulenz einer solchen Reise. Nach der gemeinsamen Probe mit Gernhaber, dem sensiblen Geiger, ist der ganze Stress wegen Sonja Ritter vergessen. Marie ist wieder obenauf und das ist für mich gleichbedeutend mit: »Die Sonne scheint wieder.«
Der städtische Chor und das städtische Orchester werden in drei großen Bussen transportiert, und auch die anderen Solisten – besonders der volksverbundene Tenor Clemens Matulka – fahren Bus, aber Marie und ich reisen im Intercity erster Klasse. Geht alles auf die Spesenrechnung ihrer Agentur, sagt Marie. Sie denke gar nicht daran, mit so einem riesigen, ständig sinnloses Zeug schwatzenden Menschenpulk stundenlang im Bus zu sitzen und womöglich auch noch Privatgespräche mit diesen
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