Karlas Umweg: Roman (German Edition)
dem Spruch über Glaube, Hoffnung und Liebe. »Vierter Korinther, Vers 13«, sagte ich.
Ludger suchte die Stelle, las sie und stellte sein Mineralwasser auf die Konsole.
»Das ist eine sehr schöne Stelle«, sagte er und sein Adamsapfel wanderte ruhelos hinter dem Flanellhemdkragen auf und ab. »Magst du auch so gern die Paulusbriefe?« Ich hätte gern geantwortet, dass sie wesentlich geistvoller seien als die Ludger-Briefe, aber stattdessen hauchte ich errötend: »Ja. Sehr gern.«
Nun hatte ich die Sache meiner Meinung nach wirklich gut vorbereitet, zumal ich mit meinem Sektglas inzwischen halb liegend auf dem Bette lümmelte. Ludger hätte sich nur der Bibel entledigen müssen und schon wären wir in einer halbwegs gelungenen Ausgangsposition gewesen.
Aber Ludger blieb sicherheitshalber auf der schattigen Seite. »Möchtest du die Barlach-Ausstellung im Museum mit mir ansehen?« Er drehte an seinem obersten Hemdknopf.
Ich richtete mich wieder auf. »Jetzt, sofort?«
»Ja. Um 17 Uhr schließt das städtische Museum.«
Warum finde ich keinen Mann, der mich glutvoll verehrt, der pausenlos versucht, mir zu imponieren, der die Taschen voller Geld hat und den Kopf voller sprühender Ideen? Und der mindestens zweimal am Tag mit mir schlafen will? Was macht Marie anders?
Gestern war ich mit Ludger bis 17 Uhr im Museum. Es war ganz nett. Danach sind wir in ein Café am Rathausplatz gegangen und haben Tee getrunken. Eigentlich hätte ich mir lieber einen Sherry oder ein Glas Champagner bestellt, aber ich war mir nicht sicher, ob Ludger die Rechnung bezahlen würde. Und richtig: er war für getrennte Kasse.
»Wie gefallen dir die Barlach-Figuren?«, fragte er.
»Toll.« Ich zog kurz in Erwägung, ihn zu fragen, wie er meine Figur fände, kam jedoch zu dem Schluss, dass Marie so etwas nie fragen würde.
»Haben sie dir etwas gegeben?«, fragte Ludger und öffnete den obersten Hemdknopf, um seinem Adamsapfel etwas Auslauf zu gönnen.
»Ja, klar«, sagte ich und ekelte mich vor dem Adamsapfel.
»Mir gibt Barlach immer wahnsinnig viel«, sagte Ludger.
»Mir auch«, sagte ich.
»Auch sonst scheinen wir gemeinsame Interessen zu haben«, sagte Ludger.
»Ja«, sagte ich und rührte in meinem lauwarmen Tee. Wir schwiegen lange.
»Kommst du heute Abend ins Konzert?«, fragte ich, um dieses unerträgliche Schweigen zu brechen.
»Wenn du willst«, sagte Ludger.
»Es ist tolle Musik«, sagte ich. »Bach. Matthäuspassion. Echt feist.«
»Aha«, sagte Ludger.
»Also dann kommst du?«, fragte ich. Mehr Interesse wollte ich ihm nun aber auf keinen Fall mehr entgegenbringen.
»Wenn du meinst«, sagte Ludger. »Dann lasse ich eben meinen Volleyball heute Abend sausen.«
Er ging dann mit ins Konzert und saß in der dritten Reihe neben mir. Zu zweit hielten wir ein Textblatt. Ich kann den Text ja schon auswendig und brauche kein Textblatt mehr, aber für Ludger hatte ich extra eines mitgenommen.
»Heiliges Kanonenrohr, ist das lang«, raunte Ludger, als er es durchblätterte.
»Ja, dreieinhalb Stunden«, sagte ich schadenfroh.
Ludger rutschte unwohl auf seinem studentenermäßigten Holzschemel hin und her. Vielleicht hatte er Blähungen? Ich hätte es ihm gegönnt.
»Ich habe nichts zu Abend gegessen«, flüsterte er. »Ich werde Hunger kriegen!«
»Bei der tollen Musik vergisst du den Hunger«, sagte ich.
Dann trat der Chor auf und das Orchester und es wurden die Instrumente gestimmt. Ich kenne jetzt schon jedes Gesicht und jede Gewohnheit dieses Orchesters. Am meisten beobachte ich den stillen und ernsten Harald Gernhaber, der immer mit viel Sorgfalt das a von der Oboe abnimmt und dann an seine Kollegen weiter fiedelt.
Dann traten die Solisten auf und der Dirigent.
Marie sah umwerfend aus. Sie zwinkerte mir bedeutungsvoll zu, als sie Ludger neben mir sitzen sah.
Dann ging es los. Spätestens nach der Buß-und-Reu-Arie begann Ludgers Magen zu knurren. Unerträglich der Gedanke, sein Magen würde jetzt noch zweieinhalb Stunden knurren. Maries Erbarme-dich-Arie näherte sich. Ich konnte die Spannung kaum ertragen. Schon als der Gernhaber aufstand und sein Notenpult hochschraubte, war ich schweißnass vor Spannung. Ludger beschäftigte sich mit dem Falten und Knicken seines Textblattes. Das Rascheln, das er dabei verursachte, bereitete mir körperliche Schmerzen. Als dann auch noch sein Magen laut und lang anhaltend dazu rebellierte, hätte ich ihm an die bewegungsfreudige Gurgel springen mögen.
Harald Gernhaber
Weitere Kostenlose Bücher