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Karlas Umweg: Roman (German Edition)

Karlas Umweg: Roman (German Edition)

Titel: Karlas Umweg: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hera Lind
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stellte sich in Positur und begann mit dem Vorspiel. Dabei schloss er die Augen. Marie stand da gerade und schön und konzentriert. Dabei schloss auch sie die Augen. Es war wahnsinnig beeindruckend. Ihr Atem ging rasch, aber beherrscht, und die Pailletten auf ihrem Busen glitzerten und blitzten. Das halbe Orchester starrte Marie an und vor lauter Spannung musste ich mich irgendwo festhalten. Ludger schreckte zusammen, als ich seine langfingrige knöcherige Hand nahm. Marie begann zu singen. »Erbarme dich, mein Gott, um meiner Zähren willen.« Das war so leidenschaftlich und so intensiv im Ausdruck, dass meine Augen feucht wurden. Ludger zuckte zusammen, als er es bemerkte, aber dann kramte er mit seiner freien Hand nach einem Taschentuch. Er scheint immer eines für heulende Weiber bei sich zu haben, wie schon damals auf der Kirchentreppe. Marie sang und klagte und schluchzte so mitreißend, dass ich in dem Moment glaubte, sie betet um Verzeihung für alle ihre Sünden. »Schaue hier, Herz und Auge weint vor dir …« Ich weinte noch ein bisschen mehr. »Weint vor dir bitterlich – erbarme dich!« Am meisten aber weinte ich darüber, dass ich selbst keine Sünden zu beweinen habe.
    Ludger hatte das Textblatt nunmehr zu einer knautschigen feuchten Scheibe verarbeitet. Er räusperte sich unruhig und rutschte von einer Pobacke auf die Andere. Ich ließ seine Hand wieder los, weil sie inzwischen schweißnass war. Stattdessen fummelte ich meine ganze emotionelle Geladenheit ins Taschentuch. Es war umwerfend. Ein ganz tolles fundamentales gemeinsames Erlebnis für Ludger und mich. Wir haben wirklich viele Gemeinsamkeiten, Ludger und ich. Jedenfalls finden wir beide Marie toll.
    Nach dreieinhalbstündiger Aufführung saßen wir erschöpft, aber erfüllt im Wirtshaus. Das ganze Orchester und der Chor sehnten sich nach dem ersten Schluck Bier. Marie kam später – sie hatte sich noch frisch machen müssen – und wurde mit frenetischem Beifall begrüßt.
    Ich hatte ihr wie immer einen Platz freigehalten, aber sie setzte sich zum Orchester: neben Harald Gernhaber! So konnte ich Ludger heranwinken, der bis dahin am Tresen gestanden hatte, und ihm den Platz anbieten. »Wenn Marie allerdings kommt, müsstest du bitte aufstehen.«
    »Natürlich«, sagte Ludger. Dann vertiefte er sich in die Speisekarte. Lange und schweigend.
    Marie sah ich nur von der Seite. Manchmal wurde sie von Harald Gernhaber verdeckt. Was ich aber trotzdem bemerkte, war dieses Leuchten in ihren Augen. Es ging also schon wieder los. Ich dachte kurz an Willem, aber das brachte in dieser Situation auch nicht viel.
    Ludger entschied sich für einen Sauerbraten mit Klößen und Apfelmus. Ich selber aß wie immer nichts, trank aber reichlich Bier. Schließlich wollte ich für meine erste Liebesnacht locker sein. Ludger trank jedoch nur Mineralwasser.
    »Wie fandest du es?«, fragte ich ihn.
    »Toll«, sagte er.
    »Hat dir das Konzert etwas gegeben?«, fragte ich und schlug meine Beine übereinander, gerade so, wie Marie es eben getan hatte.
    »Ja klar«, sagte Ludger und ignorierte meine Beine.
    »Mir gibt Johann Sebastian Bach immer wahnsinnig viel«, sagte ich.
    »Mir auch«, sagte Ludger.
    »Da scheinen wir ja wirklich gemeinsame Interessen zu haben«, sagte ich.
    »Ja«, erwiderte Ludger und trank einen Schluck von seinem stillen Mineralwasser.
    Wir schwiegen. Ich schaute herüber zu Marie, weil ich doch von ihr lernen will. Marie warf gerade die Haare in den Nacken, lachte laut und ließ sich von Herrn Gernhaber Feuer für ihre Zigarette geben. Ich fragte einen älteren Mann, der zum Chor gehörte, ob er eine Zigarette für mich hätte. Er hielt mir sein Päckchen hin. Es waren filterlose, krümelige Zigaretten. Nun warf ich ebenfalls meinen Kopf in den Nacken, lachte laut und wandte mich Ludger zu, damit er mir Feuer geben möge. Ludger starrte auf seinen aufgeweichten Bierdeckel. Der Mann, der schon sein Feuerzeug gezückt hatte, schüttelte den Kopf und ging weiter.
    »Ludger«, sagte ich und lachte wieder. »Gibst du mir bitte Feuer?«
    »Ich finde Rauchen bescheuert«, sagte Ludger. »Folgerichtig habe ich auch kein Feuer.« Ich war also gezwungen, aufzustehen und hinter dem alten Trottel aus dem Chor herzurennen, der seinerseits nun am Tresen stand. Er gab mir Feuer, wenn auch nicht gerade galant. Als ich wieder neben Ludger saß, bekam er gerade seinen Sauerbraten. Ich versuchte, ihm nicht auf den Teller zu gucken, aber er fühlte sich doch ganz

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