Karlas Umweg: Roman (German Edition)
gönnerhaft mit dem strähnigen Haupt und ich blickte verlegen auf meine zitternden Finger. Das Nilpferd kletterte von der Bühne, und der Busen schwappte mehrmals unter dieser Erschütterung. »Tja«, sagte Paterne, und jetzt erst sah ich ihn zum ersten Mal richtig, »Nun bin ich vor eine schwere Entscheidung gestellt.«
Er sah gut aus, viel besser als in meinem Traum. Ich fand sogar, dass er eine gewisse Ähnlichkeit mit Marie hat, er fabrizierte auch dieses Strahlen in den Augen und verzog so schelmisch den Mund. Jedenfalls hatte er graumeliertes, üppiges Haar, war schlank und mittelgroß und hatte eine sehr gepflegte, leicht gebräunte Haut. Gekleidet war er in eine Art weißen Russen-Kittel mit Stehkragen und Stickereien am Bündchen, etwas Ähnliches hatte mal Frau Krotoschyin für Maximilian genäht. Nur in klein, versteht sich. Eugen an sich: Ein Rasse-Mann für die reifere Frau. Marie wird total auf ihn abfahren.
»Inwiefern schwere Entscheidung?«, gurrte Sieglinde und ordnete ihre Noten.
»Vorhin hat mir bereits eine andere Dame vorgesungen«, teilte Paterne uns mit. »Sie erwies sich auf völlig andere Weise als Sie – ebenfalls als sehr geeignet. Die Eine ist was fürs Auge, die Andere was fürs Ohr. Bitte Letzteres nicht persönlich zu nehmen.« Er tätschelte Sieglindes Arm. »Ich möchte mir die ganze Sache noch einmal reiflich überlegen.«
»Wie lange wird das etwa dauern?«, fragte Sieglinde und schenkte ihm ein inniges Lächeln.
»Sie hören in Kürze von mir«, sagte Paterne, küsste Sieglinde die fette Patschhand und klopfte Siegmund jovial auf die Schulter. Dieses war nur möglich, weil Sterz nach wie vor saß.
Ich trat zu Sieglinde, die sich gerade aus dem schweren Gestühl auf die Beine quälte. Dabei geriet sie mehr ins Keuchen als bei den Arien zuvor.
»Ähm, ich hab hier was gegen Lampenfieber und unnötigen Stress«, sagte ich.
»Was soll ich denn damit?«, rief Sieglinde im vorderen Nasen-Stimmbein-Sitz.
»Bevor ich auf die Bühne gehe, trinke ich ein, zwei doppelte Whisky!«
»Tja, aber sicher ist sicher«, sagte ich und steckte ihr das Briefchen mit den Pillen in die Handtasche. »Kann ja sein, dass Sie doch noch Verwendung dafür haben.«
Paterne verabschiedete die Sterzens nun freundlich, aber bestimmt.
»War schön, Sie wieder mal zu sehen«, sagte er. »Ich würde mich freuen, wenn es wieder zu einer Zusammenarbeit kommen würde!«
»Geht nicht, ich bin bei Kurz und Knapp noch drei Jahre fest!« Siegmund klaubte sich die Zigarette hinter dem Ohr hervor, die er dort deponiert hatte. Jetzt steckte er sie an. »Scheiße mit den Agenturen!«
»Tja«, sagte Paterne und hob die Achseln. »Da kann man nichts machen. Aber die gnädige Frau wäre frei?« Sieglinde beteuerte, sie sei flexibel und könne sich gegebenenfalls sofort nach Paris begeben. Damit war das Vorsingen beendet und man verließ freundlich plaudernd den Raum.
Von mir nahm niemand der drei Notiz. Ich nehme an, sie hatten mich einfach vergessen, das kann ja vorkommen. Glücklicherweise hatte keiner von den dreien einen Schlüssel, sodass niemand mich aus Versehen einschloss. Eine ganze Zeit lang saß ich vor dem Flügel, unfähig, auch nur einen Ton darauf zu spielen. Ich hatte nichts anderes im Kopf als die Angst, Sterz könne Paterne jetzt erzählen, dass Marie seine Tochter ist.
Endlich, nach einer kleinen Ewigkeit, wie mir schien, fing ich an, die Carmen-Arie vor mich hin zu klimpern. Es machte Spaß, mal wieder einen herrlich gestimmten, wertvollen Konzertflügel unter meinen Fingern zu haben. Nach einer Weile begann ich, die Melodie mit zu singen. Dabei imitierte ich zuerst Marie, dann Sieglinde. Ich fing an zu kichern. Mit dem Timbre von Marie und der Lautstärke von Sieglinde schmetterte ich alle drei Carmen-Arien, bekam sogar die hohen Töne ohne Mühe, und das, obwohl ich noch niemals ernsthaft etwas gesungen habe! Wahrscheinlich gerade deshalb, begab ich mich gedanklich in nebeliges Terrain, und erinnerte mich schemenhaft an die Aufkleber im Übehaus des Konservatoriums: »Wer übt, kann nichts.«
Schließlich hatte ich mich so in Rage gesungen, dass ich auf den Tisch kletterte und das Triangel-Lied sang. Ich stampfte mit den Beinen und klatschte in die Hände, ich schnippte mit den Fingern und wippte mit den Hüften.
Ach, das tat wohl, endlich mal alle meine Sorgen zu vergessen. Gut, dass mich niemand gesehen und gehört hat. Jetzt ging es mir wirklich besser.
Gestern war Marie nicht mehr zu
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