Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Karlas Umweg: Roman (German Edition)

Karlas Umweg: Roman (German Edition)

Titel: Karlas Umweg: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hera Lind
Vom Netzwerk:
und schlief. Wir schoben ihn in die Garage und ließen ihn dort stehen. Marie meinte, wenn wir ihn ausziehen, wird er wach und heult, und in der Garage ist es kalt genug, dass er angezogen bleiben kann.
    Marie bot mir einen Sherry an. Ich konnte einen brauchen, obwohl ich so etwas nie trinke, aber das Spießrutenlaufen mit dem dicken Baby hatte mich geschafft. »Guck mal, ein Michelin-Männchen!«, war noch das Harmloseste, das Passanten hinter uns hergerufen hatten.
    »Hast du geweint, Marie?«
    »Ja, und ich fange gleich wieder an«, drohte Marie.
    »Wegen deiner Mutter?«
    Marie erzählte unter Tränen, dass die Mutter sie beim Üben nicht nur beaufsichtigt, sondern auch stark behindert hätte, durch ständige unerwünschte Erklärungen und schrilles Vorsingen gewisser Passagen. Die Mutter hat echt ein scheußliches Tremolo, davon konnte ich mich ja schon überzeugen. Und dass sie sich leider für die Callas persönlich hält, ist auch schon hinreichend bekannt. Als Marie sich wehrte, keifte die Mutter auf sie ein, allein ihr hätte Marie ihren Erfolg zu verdanken, und sie, die Mutter, hätte ihre eigene Karriere für Marie geopfert. Diese Platte kann Marie wohl nicht mehr hören, denn sie brüllte ihre Mutter an, sie stünde unter Zeitdruck und hätte übermorgen ein wichtiges Konzert und sie könne im Moment nicht ertragen, auf diese Weise von ihrer Arbeit abgehalten zu werden, und es stehe überhaupt nicht zur Debatte, unter welchen Umständen die Mutter Sängerin oder eben auch nicht Sängerin geworden sei. Hier gehe es einmal um sie, Marie, wann denn die Mutter das endlich begreifen wolle!
    Die Mutter brach in bösartiges Hohngelächter aus und warf ihrer Tochter Eitelkeit und Egoismus vor. »Du hast ein Kind in die Welt gesetzt, da kannst du nicht so einfach Karriere machen und Beifall einheimsen! Das konnte ich mir auch nicht leisten!«
    »Aber ich bin nicht du! Wann siehst du das endlich ein!«
    »Ja, du hast einen reichen Mann, der dir Kinderfrauen und Haushälterinnen ermöglicht«, schrie die Mutter neiderfüllt, »aber wem verdankst du ihn? Mir, nur mir allein! Ohne mich wärest du in der Gosse gelandet!«
    »Ich wünschte, ich wäre in der Gosse gelandet, wenn ich nur dir dort nicht begegnen müsste!«
    »Ich wünschte, ich hätte dich nie geboren!« Die Mutter hatte laut aufgeschluchzt und den Deckel von dem Flügel zugeworfen. Dann hatte sie ihren Pelz aus der Garderobe geholt, sich mit Schwung über die Schultern geworfen und war davongestoben. Ihr bühnenreifer Abgang misslang allerdings im allerletzten Akt, weil nämlich Olga, die Dogge, sich durch die Mutter in ihrem Mittagsschlaf unsanft gestört fühlte und bellend aus ihrer Hütte geschossen kam. Die Mutter schlug mit ihrem Trachtenschirm auf das Tier ein, und beide hatten teils Angst voreinander, teils größte Wut aufeinander. Schließlich entwich die Mutter mit den Worten »Du wirst mich noch auf Knien anbetteln, zurückzukommen!« durch das Gartentor. Marie blieb heulend zurück, streichelte Olga, das verwirrte Tier, das ja nun gar nichts dafür konnte, telefonierte mit Edwin, rauchte dabei unentwegt, obwohl das laut Aussage ihrer Mutter massiv ihrer Stimme schadet, und goss sich nun schon den vierten Sherry ein.
    »Wo wohnt denn deine Mutter?«, fragte ich besorgt.
    »In einem Mietshaus in Charlottenburg.«
    »Ach«, entfuhr es mir. »Ich dachte, sie wäre sehr wohlhabend!«
    »Nein«, erwiderte Marie. »Sie bezieht nur eine kleine Rente.«
    »Kleine Rente? Aber sie hat mir doch erzählt, dass sie Sängerin an der Staatsoper war …«
    »Im Chor«, sagte Marie.
    Mir blieb die Spucke weg. »Aber sie berichtet doch dauernd von ihrer großen Karriere! Letztens erwähnte sie noch einen berühmten französischen Dirigenten, unter dem sie ›Carmen‹ gesungen hat.«
    »Davon träumt sie nur«, sagte Marie seufzend.
    Ich musste noch einen Sherry trinken. Da hatte ich einen wahnsinnigen Respekt vor dieser Frau gehabt, und sie war nur eine pensionierte Chorsängerin? Als ich dann auch noch ihren Namen erfuhr, brauchte ich einen dritten Sherry.
    Erna Pfefferkorn, zweiter Sopran im Chor der Staatsoper. Das war also Maries Mutter. Ich verstehe ja nicht viel von Psychologie, aber plötzlich wurden mir doch gewisse Zusammenhänge klar. »Und dein Vater?«, fragte ich vorsichtig.
    »Meinen Vater habe ich noch nicht kennengelernt …«, sagte Marie. »Aber das kommt noch. Ich spüre das. Bald werde ich ihm begegnen!« Sie lächelte geheimnisvoll.
    »Wo

Weitere Kostenlose Bücher