Karlas Umweg: Roman (German Edition)
Konzertexamen bestanden, und das zu Recht!
Als wir gerade bei der zweiten Strophe waren, kam die Mutter im Küchenkittel herein und sang auch mit. Das war befremdend, weil sie optisch nicht ganz dem Carmen-Bild entsprach, zumal sie einen Rührbesen in der Hand schwang und Fellpantoffeln trug. Sie sang lauter als Marie und stellte sich ganz dicht hinter mich. Marie hörte auf zu singen und ging auf die Terrasse, um eine zu rauchen. Die Mutter tremolierte die ganze zweite Strophe, und weil ich ein höflicher und gut erzogener Mensch bin, begleitete ich sie bis zum hohen Fis.
Danach sank ich erschöpft zurück. Die Mutter drohte mir spielerisch mit dem Rührlöffel und sagte: »Na? Kann ich das wohl auch?«
Ich erwiderte kraftlos: »Ja, allerhand!« Rasch trat ich auf die Terrasse, um mich neben Marie zu stellen.
Marie äußerte sich sehr anerkennend und sagte, dass ich ja für ein erstes Semester schon toll spielen würde!
Wenn Herr Professor Echtwein mal verhindert wäre, könnte ich sie sicherlich auch begleiten. Auf Tourneen und so. Ich war total glücklich. Wenn das Papa und Mama wüssten! Nach einer Woche in Berlin bereits so ein feistes Angebot!
Wir tranken dann Kaffee und versuchten, uns zu unterhalten. Störend dabei waren die Mutter und das dicke Baby. Die Mutter, weil sie sich immer einmischte und jede Gelegenheit ergriff, um von ihren früheren Erfolgen zu erzählen, und das dicke Baby, weil es ständig lautstark Kuchen forderte. Der dicke kleine Kerl erinnerte mich an Karlson vom Dach, nur dass er leider keinen Propeller auf dem Kopf hatte, der es ihm ermöglichte, davonzufliegen, was ich in diesem Fall begrüßt hätte. Es war ziemlich anstrengend. Meine Mama, die wäre stillschweigend mit dem dicken Baby spazieren gegangen und hätte mich mit meiner neuen Klavierspielerin in Ruhe reden lassen. Nicht so diese Frau Pfefferkorn. Sie blieb bei uns sitzen und trällerte uns ständig was vor.
Das Baby grabschte nach dem Tortenheber und drosch damit auf die Marmorplatte. Draußen tobte Olga. »Mutter, ich muss jetzt einen Moment Ruhe haben, bitte!«, rief Marie verzweifelt und ich fürchtete, sie würde losheulen. Mir war die ganze Sache ziemlich peinlich. Die Mutter schleppte empört das Baby fort, das mit dem Tortenheber nach ihr schlug, und ich machte mich mit dem Abräumen des Geschirrs nützlich.
»Lass das, komm mit ins Schlafzimmer!«, sagte Marie und zog mich mit sich fort.
»Ich hasse meine Mutter!«, sagte sie, als wir allein waren. Das überraschte mich nicht.
»Sie ist ganz schön anstrengend«, gab ich zu. Dass das dicke Baby anstrengend war, wollte ich nicht erwähnen, das wusste Marie ja wohl selbst.
»Sie hat mir alles eingebrockt, alles!«, sagte Marie und zerrte einige Kleider aus dem Schrank.
»Was hat sie dir eingebrockt?«, fragte ich vorsichtig.
»Hier, zieh das mal an!« Marie schüttelte ein schwarzes Teil vom Bügel und ließ es auf das breite Bett fallen. »Das ist mindestens eine Nummer größer als das vom letzten Mal.«
Ich zog mich brav aus und schälte mich in das Marie-Kleid. »Sie ist schuld an allem, was mir passiert ist«, sagte Marie und schüttelte den Kopf. »Nein, das passt dir nicht, ist wohl auch zu eng. Welche Größe hast du denn?«
»Zweiundvierzig«, schämte ich mich. Dann wechselte ich schnell das Thema: »Woran ist deine Mutter schuld?«
»Zweiundvierzig ist natürlich out of Couture«, sagte Marie.
Ich schluckte. Mama kauft mir immer heruntergesetzte Klamotten bei Karstadt, im Winter- oder im Sommerschlussverkauf, und die fangen bei Größe vierzig erst an.
»Meine Mutter ist schuld an Willem und an allem«, sagte Marie.
»Wer ist Willem?« Ich hielt mir das zu enge Kleid verschämt vor den Kaufhaus-BH-Busen. Soviel ich weiß, habe ich 85 C, und Mama sagt, das reicht aber wirklich.
»Willem ist mein Mann, natürlich«, sagte Marie.
»Den habe ich ja noch nicht kennengelernt«, sagte ich verlegen.
Sie nahm mir das Kleid weg und schüttelte etwas anderes vom Bügel. »Hier, das ist ganz weit. Probier das mal. Den konntest du auch gar nicht kennenlernen, der ist in der Fabrik.«
Ich schälte mich in »das ganz Weite« und fragte dumm: »Fabrik?« Irgendwie passte es nicht in mein Weltbild, dass der Mann von Marie ein Fabrikarbeiter war.
»Willem geht immer in die Fabrik«, sagte Marie. »Dann hat er seine Ruhe vor dem ganzen Scheiß hier.«
»Seit wann bist du mit ihm verheiratet?«
»Seit meine Mutter das arrangiert hat. Ich glaube, acht
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