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Karlas Umweg: Roman (German Edition)

Karlas Umweg: Roman (German Edition)

Titel: Karlas Umweg: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hera Lind
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Nachmittag und wir fahren weiter. Leider. Es sind hundertfünfzig Kilometer. Ich überlege schon, ob ich morgen einfach zurückkommen soll, um hier noch einmal zu üben. Ludger Thiesbrummel hat mir zum Abschied die Hand gegeben und gesagt, ich könnte immer gerne wiederkommen.
    Es ist kurz nach sechs in der Früh und Marie würde mich für verrückt erklären. Ich sitze im Intercity zweiter Klasse und fahre zurück in die Stadt von gestern. Da gibt es nämlich ein Klavier. Endlich hab ich ein Ziel im Leben! Gegen Viertel vor neun wird Ludger Thiesbrummel angestakst kommen. Er hat heute erst zur zweiten Stunde Unterricht. Ich freue mich schrecklich darauf, an meinem geliebten Kleinklavier mit den bunten Noten im Hintergrund zu üben. Auch wenn ich zwischendurch mal unterbrechen muss für »Der Kuckuck und der Esel«, das macht nichts. Da Thiesbrummel nur ganz wenige Akkorde spielen kann und meistens auch noch an der falschen Stelle anwendet, habe ich mir überlegt, ihm anzubieten, das Lied heute mal selbst zu begleiten. Aber nur, wenn er sich in seiner Autorität als Lehrer nicht untergraben fühlt. Und auf Thiesbrummel freue ich mich auch. Ich hab mir überlegt, dass ich ihn heute zum Essen einladen werde. Irgendwie muss ich mich ja erkenntlich zeigen, das gehört sich so. Mama wäre auch total dafür. Sie wäre überhaupt begeistert von der ganzen Angelegenheit: Siehst du, Kind, ich habe immer gewusst, dass du in solchen Kreisen mal einen Mann kennenlernst.
    Nun bin ich also im Begriff, eine eigene Beziehung aufzubauen, völlig ohne den geistigen Beistand von Marie. Echtwein hat mir jetzt vier mürrische Mitternachts-Klavierstunden gegeben. Ich musste mir Noten kaufen, die ich sowieso zu Hause schon habe. Echtwein hat gesagt, das müsste mir die Sache aber wert sein. Andere Leute würden für eine Klavierstunde bei ihm dreistellige Summen zahlen. Keine Ahnung, wieso ich den Typ nicht mag.
    Mir fällt auf, dass ich über Maries Konzerte noch gar nichts geschrieben habe. Also: Weltklasse! Das findet auch Zurlinde. Diesmal ist alles bestens organisiert. Der Agent ist immer einen Tag vorausgereist und hat alle Säle inspiziert, alle Verantwortlichen angespitzt, dass sie gut heizen, dass es nicht ziehen darf und dass der Flügel genau unterm Licht stehen muss. Auch die Hotels sind Spitze. Zwei Einzelzimmer liegen immer nach hinten heraus und sind nebeneinander: die nehmen Marie und Echtwein. Ich habe immer ein kleines Zimmer unter dem Dach oder neben dem Aufzug oder zur Straße raus, und ich hege heimliche Ängste, eines Nachts mein Bett für Zurlinde räumen zu müssen. Schließlich ist er der Direktor der Hochschule, auf der ich studiere, und ich schätze, es würde sich negativ auf mein Examen auswirken, wenn ich meinen Direktor nachts im Regen stehen lasse.
    Gestern hab ich zum ersten Mal den Versuch gemacht, auswendig zu blättern. Ich klebe nicht mehr wie ein Kaninchen in Panik an den Noten, sondern ich lehne mich zurück und meditiere die Töne. In meiner Entspanntheit hege ich den Gedanken, aus Rache einmal nicht umzublättern, sondern mir in der Nase zu bohren oder den Schuhsenkel zuzubinden. Einmal habe ich gefährlich lange gewartet. Echtwein ist auf seinen Frackschößen rumgerutscht, als wenn er dringend aufs Klo müsste. Dann kam das Kopfnicken. Super war das, wie er voller Panik mit seinem Kopf nickte. Ich ließ ihn nicken. Die Augen wollten ihm schon aus dem Kopf quellen, die Haare fielen ihm wirr in die Stirn. Erst im allerletzten Moment, als er schon die linke Hand von den Tasten genommen hatte, hab ich mich gnädig erhoben. Bei der nächsten Seite hat er schon vier Takte zu früh genickt, der Trottel.
    Marie sang wie immer auswendig ihr zweieinhalbstündiges Programm. Sie geht so darin auf, dass man sie privat nicht wiedererkennen würde. Sie ist absolut souverän, sie zelebriert jedes Lied und turnt elegant auf jeder Koloratur herum. So müsste man singen können! Ihre Mimik ist ebenso mitreißend wie ihr Gesang. Besonders die Carmen-Arien und die Tamburin-Szene, wo sie auf dem Tisch tanzt und nur »lalalalalalalalalala« singt, ist so hinreißend, dass die Leute im Saal toben. Sie klappert mit Kastagnetten und wippt mit den Hüften, dass einem die Schauer der Wollust über den Rücken laufen. Mir ist schon klar, warum alle Männer Marie verfallen. Ich verfalle ihr ja selbst. Immer wieder kriege ich an bestimmten Stellen eine Gänsehaut. Echtwein dagegen begleitet sie mit unbewegtem Gesicht. Aber er

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