Karlas Umweg: Roman (German Edition)
Tag, an dem ich mein Klavierstudium für Marie an den Nagel gehängt hatte. Wie ungerecht von mir. Ich war eben kurzzeitig emotional blockiert.
Für einen Januartag war meine Beschäftigung nicht so geeignet. Mein Popo schien anzufrieren auf den Kirchenstufen. Ein Mütterlein im Wintermantel ging zum Beten an mir vorbei, es kam nach drei Rosenkränzen gestärkt und innerlich auf gewärmt wieder heraus. Es sah nicht so aus, als hätte es zu Hause ein Klavier, deshalb zog ich kein Gespräch mit der Frau in Betracht. Sie aber offensichtlich auch nicht mit mir. Sie machte geradezu einen Bogen um mich. Wie lange ich da so in meinem Selbstmitleid auf den kalten Stufen gesessen habe, weiß ich nicht. Jedenfalls kam ein junger Mann des Weges, er hatte Ähnlichkeit mit einem langhalsigen Vogel und trug einen überdimensionalen Adamsapfel unter dem Kinn. Er blieb bei mir stehen und reichte mir ein Taschentuch.
»Weinen Sie?«
»Nein, ich schneide Zwiebeln.«
»Kann ich Ihnen helfen?«
»Wohl kaum«, sagte ich und schnaubte Rotz und Wasser in sein Tuch. Dann reichte ich es ihm zurück.
»Danke trotzdem.« Er sagte lächelnd, dass ich es behalten dürfe.
»Oh, ja, natürlich«, sagte ich und knüllte es mir in die Manteltasche.
»Gehen Sie ein Stück mit mir?«, fragte der Vogel. »Vielleicht erzählen Sie mir, warum Sie so traurig sind.«
Ich war schon auf den Stufen festgefroren und der langhalsige Vogel musste mich regelrecht loseisen. Er tat das, indem er ein Feuerzeug an meinen Hintern hielt.
Ich stand dankbar auf und trabte neben ihm her. »Ich habe auch sonst nichts mehr vor heute.«
»Sie wohnen nicht in der Stadt?«
»Nein, ich bin erst seit gestern hier und wir reisen auch morgen wieder ab.«
»Wer ist wir?«
Ich erzählte ihm, wer »wir« ist. Echtwein, Marie, Zurlinde und ich. Und wir sind alle vier sehr eigenwillige Künstler. Jeder will etwas anderes und das ist nicht immer einfach.
»Also, wenn ich richtig verstanden habe, wäre ein Klavier genau das, womit sich Ihre Laune wieder aufbessern ließe?«
»Ja«, sagte ich matt.
»Kommen Sie«, sagte der Vogel. »Ich bin Lehrer hier an der Grundschule. Im Musikraum steht ein Klavier. Soviel ich weiß, ist da jetzt niemand drin.«
Er führte mich in ein verklinkertes Gebäude, wo überall bunte Bilder an den Wänden hingen. An niedrigen Garderobenhaken hingen aufgereiht Mäntelchen an Mäntelchen. Richtig entzückend. Ich kam mir vor wie Schneewittchen, das jetzt vom Froschkönig ins Land der siebenhundert Zwerge geführt wird, weil da der Schatz vergraben ist, der sie erlösen kann vom Zauber der schönen Königin, ihrer Mutter hinter den sieben Bergen und ihren vielen Untertanen und Jägermeistern.
Da war der Musikraum. Der Vogel schloss ihn auf, er war leer. Helle freundliche Bänke, die nach Kindheit rochen, standen da, eine Tafel, auf der große runde bunte Noten waren, und: ein kleines hellbraunes Klavier.
Es sah genauso aus wie in meinem Unterrichtsraum in der städtischen Musikschule in Bad Orks. »Ein Klavier, ein Klavier!« Ich ging hin und fasste es an. Es war echt.
»Na bitte«, sagte der Vogel. »Üben Sie, so lange Sie wollen. Sagen Sie mir nur nachher Bescheid, damit ich wieder abschließen kann.«
Ich bedankte mich strahlend und hielt meine steif gefrorenen Finger auf die Heizung.
»Wollen Sie zuerst einen Tee?«, fragte der Lehrer.
Eigentlich hätte ich gern einen gewollt, aber ich wollte den Mann nicht unnötig von seiner Arbeit abhalten. »Geht schon so, vielen Dank.«
Als er hinausging, rief ich noch mal »Vielen, vielen Dank« hinter ihm her.
Der Vogellehrer wehrte bescheiden ab und stakste davon. Ich spielte vorsichtig ein paar Tonleitern. Es war kein Bösendorfer. Nur ein ganz normales leicht verstimmtes Kleinklavier. Aber es hatte weiße und schwarze Tasten. Und es gehörte mir. Mir ganz allein. Ich war so selig, dass mir Freudentränen in die Nase stiegen. Ich schnaubte noch einmal in des Vogels Taschentuch und übte dann vier Stunden Bach.
Heute bin ich früh um sieben aufgestanden und zu der Schule gegangen. Um zehn vor acht schon saß ich wieder an dem Klavier und habe bis nachmittags um vier geübt. Zwischendurch musste ich ein paar Mal unterbrechen, weil mehrere Dutzend Kinder reinstürmten und mit dem langhalsigen Vogel »Der Kuckuck und der Esel« sangen, aber nach einiger Zeit stürzten sie allesamt wieder raus. Der Vogel heißt Ludger Thiesbrummel und hat mir heute einen Tee gekocht. Jetzt ist es später
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