Karlas Umweg: Roman (German Edition)
muss als Klavierbegleiter toll sein. Marie schwört auf ihn. Manchmal ertappe ich mich bei der Vorstellung, ich würde Marie begleiten. Und Echtwein würde blättern. Dann laufen mir wahre Wonneschauer den Rücken runter.
Nachher: stehende Ovationen, vier Zugaben. Anschließend Sektempfang. Echtwein muss sich da immer sehen lassen, während ich mich schon am Flügel warm spiele. Manchmal singe ich heimlich ihre Arien, weil die Akustik im Saal so toll ist. Sogar die Tamburin-Szene auf dem Tisch habe ich schon versucht, ganz heimlich, still und leise. Wenn ich Echtwein kommen höre, schmeiße ich mich sofort auf den Klavierhocker und präludiere einen Bach oder hämmere einen Bartok, aggressiv und laut. Dann schmeißt er seine Fliege und seinen Frack von sich, dünstet Schweißgerüche aus und beginnt übellaunig mit dem Unterricht. Ich graues Nachtschattengewächs im Vergleich zu der blutroten Rose Marie – völlig klar, dass Echtwein keine Lust zum Unterricht hat! Zumal Marie diese sternklaren Winternächte gern mit Zurlinde verbringt. Sie erzählt mir am nächsten Tag immer, wo sie waren, was sie gespeist haben, wen sie getroffen haben, über wen geredet wurde. Zurlinde ist eine wichtige Persönlichkeit in allen kulturellen Vereinen und Institutionen. Alle Welt kennt ihn und schätzt sein Urteil. Zum Beispiel ist er Vorsitzender vieler Gremien, Ausschüsse und Wettbewerbe. Nun hat er Marie angeboten, sie in die Jury des internationalen Mozart-Gesangwettbewerbes nach Salzburg mitzunehmen. Das Finale wird im Fernsehen übertragen. Marie als jüngstes Jurymitglied könnte auch etwas singen, außerhalb der Konkurrenz sozusagen. Er möchte, dass sie international bekannt wird. Marie jubelte und sprang auf ihrem Bett herum und küsste ihren Zahnputzbecher.
Sie kann so losgelöst ihre Emotionen herauslassen! Man muss sich einfach mit ihr freuen!
»Ich werde Tag und Nacht mit Zurlinde zusammen sein«, jubelte sie. »Außerdem darf ich über den internationalen sängerischen Nachwuchs mitbestimmen. Es wird wahnsinnig interessant! Denk nur, vor einem Jahr bin ich selber noch zu Wettbewerben gefahren, als Kandidatin! Grässlich war das, erniedrigend und fürchterlich!«
»Hast du keine Preise gemacht?«
»Doch, natürlich. Fast jedes Mal. Aber einmal, da wollten sie mich mit einem ›Lobenden Förderpreis‹ abspeisen! Da hab ich vielleicht geheult! Fix und fertig war ich! Damals hab ich Zurlinde angerufen und der hat mit dem Vorsitzenden telefoniert und dann bekam ich doch den Zweiten. Ein Erster wurde gar nicht vergeben.«
Unverschämtheit, wie sie Marie behandelt haben. Also auch ihre Karriere begann steinig und dornenvoll. Was für Erniedrigungen man sich gefallen lassen muss, bevor man internationale Anerkennung findet! Ich halte es übrigens nicht für unklug, so ein paar einflussreiche Hobbymaurer und Entenhalter zu kennen. Von daher ist Thiesbrummel, der »Kuckuck und der Esel« singende Volksschullehrer, auf Dauer kein adäquater Umgang für mich. Das würde Mama auch verstehen.
Von meiner heimlichen Beziehung zu Ludger Thiesbrummel, der sowohl Ähnlichkeit mit einem Kuckuck wie auch mit einem Esel hat, darf Marie natürlich nichts wissen. Erst mal, weil er mir intellektuell und vom künstlerischen Anspruch überhaupt nicht im Mindesten gewachsen ist, und dann auch so, weil sie darüber lachen würde.
Ludger hat allerdings gewisse Absichten mir gegenüber: Gestern nämlich, als der Musikraum besetzt war und die Kinder dreißigstimmig und sehr atonal »Ein Vogel wollte Hochzeit machen« intonierten, konnte ich beim besten Willen nicht üben. Nachdem ich alle fünfzig Strophen begleitet hatte und mir die Ohren schepperten vor so vielen falschen Tönen, die die Kinder in meinen Nacken geplärrt hatten, war ich ganz schön erschöpft. Nun hatte ich die lange Bahnfahrt umsonst gemacht. Das wollte Thiesbrummel nicht auf sich sitzen lassen. Spontan und selbstlos fuhr er mich in seinem hellblauen Käfer mit den alternativen Umweltschutz-Aufklebern zu seiner Tante Hella, die in einem biederen Mietshaus am Rande einer Schrebergartensiedlung wohnt und ein Klavier im muffigen Wohnzimmer stehen hat. Dort durfte ich stundenlang üben, nur ab und zu kam die Tante rein und wählte, vor Mitteilungsdrang platzend, eine Telefonnummer, hielt dann kommentarlos den Hörer an das alte Klavier und ließ den Teilnehmer am anderen Ende schier verzweifeln. Triumphierend jauchzte sie dann, dass sie es sei, Hella, und dass der andere
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