Karlas Umweg: Roman (German Edition)
Bach klingt genauso dürftig wie alles andere.«
»Es tut mir leid«, wagte ich aufzubegehren, »an den Flügel war kein Rankommen. Erst haben Sie geprobt, dann musste Marie sich einsingen, dann kam der Klavierstimmer und dann war bereits Einlass im Saal. Wann soll ich denn üben?«
»Mädchen, seien Sie doch nicht so unbeweglich«, sagte Echtwein müde. »Wer sagt denn, dass Sie auf diesem Konzertflügel üben müssen? Meinen Sie, ich hätte nur auf Konzertflügeln geübt?«
»Nein, aber Sie hatten vermutlich ein Zuhause …«
»Nun werden Sie mal nicht gleich persönlich«, sagte Echtwein sauer. Und dann schlug er mir vor, doch einfach in das nächstgelegene Gemeindehaus zu gehen, beim Pfarrer anzuklingeln und um den Schlüssel zum Klavier zu bitten. Vormittags wäre in Gemeindehäusern doch nie was los. Er würde mir ein Bittschreiben an den Pfarrer verfassen, wenn ich mich schon selbst nicht trauen würde. Ich komme mir etwas blöd vor, aber ich werde es wirklich tun. Sonst wird ja nie was aus mir.
Mit einem handschriftlichen Zettel »Diese junge Pianistin bittet um ein Klavier, damit sie üben kann, gez. Prof. Echtwein« ging ich zur nächsten Kirche. Ich kam mir vor wie eine Asoziale. »Bin arbeitslos, obdachlos und habe Hunger«, hätte genauso gut auf dem Zettel stehen können. Während ich auf die Kirche zuging, war ich aufgeregt wie ein Kind. Außerdem dachte ich daran, dass Marie jetzt im Bett sitzt und frühstückt und sich entweder von Edwin oder Heyko die gestrige Kritik vorlesen lässt. Der Konzertflügel steht unbenutzt auf der großen Bühne, die Akustik im leeren Saal ist phantastisch, aber ich darf mich nicht daran wagen. Ich muss betteln gehen. Ob alle Karrieren so anfangen? Fast wäre ich umgekehrt, aber ein langer Tag im Hotel ist noch viel öder, wenn man nur einen einzigen Wunsch hat: zu üben! Ich klingelte also am Pfarrhaus, es war kurz nach zehn. Die Haushälterin kam raus. Sie hatte ein Staubtuch in der Hand und ein Witwe-Bolte-Tuch um den Kopf geschlungen. Ich machte einen artigen Knicks und zeigte ihr den Zettel. Sie hatte ihre Brille nicht dabei und ging wieder hinein, um sie zu holen. Als sie wiederkam, sagte sie streng: »Wir kaufen nichts, junge Frau!«
»Nein, nein, lesen Sie bitte nur diesen Zettel«, stammelte ich und mir wollten die Tränen kommen. Sie las ihn, runzelte die Stirn, las ihn noch einmal und schüttelte dann den Kopf. »Das Klavier ist abgeschlossen«, meinte sie. Sie wollte schon die Tür wieder zuschlagen. Ich rechnete blitzartig hoch, wie viele Kirchen mit Gemeindehäusern es in dieser Stadt gibt, und stellte meinen Fuß zwischen die Tür und die Schwelle.
»Dann könnte man es doch eventuell aufschließen?«, schlug ich schüchtern vor.
Die Haushälterin guckte mich von unten bis oben an. »Hä Pfarrä!«, rief sie dann über die Schulter nach drinnen, ohne mich aus den Augen zu lassen. »Komme Se doch emol här! Da is ä junge Frau, die will an unsä Klavier!«
Ein glatzköpfiger, gutmütiger Pfarrer kam in Pantoffeln an die Tür. Er war sehr katholisch gekleidet, also mit dieser unvermeidlichen weißen Halsbinde über der Strickjacke, aber der Rest, besonders die Füße, war in Zivil, sprich in Filzpantoffeln.
»Was will das Mädchen?«, fragte er die Haushälterin gütig. »Geben Sie ihr was zu essen, und aus der Kleidersammlung ist auch noch was da.«
Ich erklärte ihm, dass ich mit zwei Künstlern auf Tournee sei und selbst auch Pianistin werden möchte. Einer der beiden Künstler sei mein Lehrer und hätte mir geraten, tüchtig Klavier zu üben. Dann zeigte ich ihm den Zettel. Der Pfarrer las ihn und lächelte freundlich. Er nahm mich bei den Schultern, drehte mich in Richtung Neubausiedlung und wies dann mit dem ausgestreckten Arm direkt an meiner Nase vorbei.
»Da vorne an der Laterne«, sagte er, und ich hoffte, dass er mir jetzt den Weg zum Klavier erklären würde und nicht zur öffentlichen Toilette, »da biege Se links ab. Dann gehe Se noch gut fünfhunnät Medä in so ne kleine Weg nei, un wenns da rauskomme, dann isses genau vis ä vis.«
»Das Klavier?«
»Das Sozialamt«, sagte der Pfarrer. »Die sind für solsche Fälle zuständisch.«
Die Haushälterin lachte schrill und schlug mir die Tür vor der Nase zu. Den verdammten Zettel hatte der Pfarrer immer noch.
Ich setzte mich auf die vereisten Steinstufen vor der Kirche und heulte. Ich hasste Echtwein, ich hasste Marie, ich hasste alle Männer, die sie liebten, und ich hasste den
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