Karlas Umweg: Roman (German Edition)
um sein Zwerchfell zu lockern oder so. Er war ganz erstaunt, dass seine zwei Stunden schon rum waren, und wollte mit mir handeln. Ein Mensamärkchen Essen zwei gegen eine weitere halbe Stunde Entspannungsfurzen. Ich habe mich aber nicht drauf eingelassen. Schließlich will ich es hier zu was bringen, und das in kürzester Zeit! Die Zähne der alten Mähre, die sich einst Klavier genannt haben mag, waren denen eines Kettenrauchers nicht unähnlich. Eigentlich eine Unverschämtheit, dass der Kultusminister sich diese unzumutbaren Übezellen nicht mal vorführen lässt! An den Wänden prangten allerlei Verzweiflungssprüche von Studenten, die hier stundenlang eingesperrt im eigenen Mief verharrt hatten, ähnlich wie Knastbrüder, die der Nachwelt eine Botschaft zukommen lassen wollen. Am besten gefielen mir die Sprüche der emanzipierten Übeschwestern: »Eine Frau ohne Mann ist wie ein Fisch ohne Fahrrad!« Das ist ein prima Spruch für Regina, den sollte ihr mal jemand in eine ihrer drei voll gekritzelten Kladden schreiben. Ansonsten stand da: »Wer übt, kann nichts!« Eine Logik, der ich allzu gern Folge leisten würde.
Trotz allem will ich mich nicht demotivieren lassen. Meine Karriere ist vorbestimmt. Ich bin ein Ausbund an Begabung und Musikalität. Mama sagt, was mir fehlt, sind Fleiß und Ehrgeiz. Bitte, kann sie haben. Ich werde erfolgreich sein.
Meine erste erwähnenswerte Begegnung mit dem Besitzer einer dieser nassen Mäntel fand in der Mensa statt. Ich hatte gerade etwa vierzig Minuten in der Essen-eins-Schlange gestanden und mit Erfolg einen lauwarmen Klecks graugrüner Kartoffel-Bohnen-Pampe mit Speck erstanden, als ich einen Stuhl erspähte, auf dem nichts weiter lag als ein nasser Mantel mit Zigaretten darauf. Diese einmalige Chance, den lauwarmen Klecks im Sitzen zu verspeisen, wollte ich mir nicht entgehen lassen, und deshalb setzte ich mich knapp neben den nassen Mantel auf die Stuhlkante. Um mich herum dampften Menschenschlangen ihre kalten Schweiß- und Regendünste aus. Neben meinem Essen lagen zwei ausgekaute rosa Kaugummis in einem Aschenbecher, und zwei Zigarettenkippen steckten in einem halb vollen Joghurtbecher, der als Dessert zu Essen drei gehörte. Zu Essen eins gehörte als Nachspeise eine ledrige runzelige Mandarine, die ich im Eifer des Gefechtes jedoch an mich zu reißen versäumt hatte. Jedenfalls genoss ich still und verträumt den Gemüseeintopf, der in mir fast ein bisschen Heimweh nach Mama entfachte, als ein langer, spindeldünner blonder Typ mit viel Gel im Haar auf einmal den Mantel unter meinem Hintern wegzerrte, ihn auf den Boden warf und etwas Unverständliches murmelte, bevor er sich zu mir auf den wackeligen Mensastuhl quetschte. Sein Hintern war entschieden zierlicher als meiner, sodass es relativ unproblematisch zu arrangieren war. Der Blonde mampfte dann mit Appetit Essen zwei, eine aufdringlich duftende Currywurst mit lappigen blassen Pommes frites und zum Nachtisch eine bräunliche Banane, die er praktischerweise gleich als Aschenbecher für seine Verdauungszigarette benutzte. Nachdem er so genüsslich gespeist hatte, richtete er seine wasserblauen Augen auf mich und fragte: »Neu hier?« Ich antwortete höflich, dass ich im ersten Semester Klavier studiere und erst seit drei Tagen hier an der Hochschule der Künste sei. »Feist«, sagte der Kommilitone.
»Wie?«, fragte ich irritiert.
»Feist, dass du Klavier spielen kannst«, sagte er und spuckte einen Tabakkrümel von der Zunge.
»Wie, feist?«, fragte ich dümmlich zurück. »Feist verstehe ich doch im Sinne von fett, überernährt, unschön aus dem Leim gegangen?« Papa kann es nicht leiden, wenn jemand die deutsche Sprache vergewaltigt. Man soll die Wörter so benutzen, wie sie gemeint sind, und nicht sinn-entstellend.
»Na, fühl dir man nicht aufn Schlips jetretn«, sagte der Blonde. »Feist heißt geil, dat dat klaa is.«
»Wie, geil?«, fragte ich. »Geil ist doch im herkömmlichen Sprachgebrauch ein unschöner Ausdruck für lüstern, triebhaft, unkontrolliert seinen sexuellen Gelüsten nachgebend?« Ganz Papas Tochter, ich nun wieder, dachte ich stolz. »Außerdem tragen Frauen keinen Schlips, jedenfalls keine, die normaler Gesinnung sind.« Papa ist ein Schöngeist, und umgangssprachliche Floskeln kommen ihm nicht ins Haus. Mit diesem ungebildeten Lümmel, der »Deodorant« wahrscheinlich für eine Cocotte von Chopin hält, nehme ich es doch allemal noch auf.
Der Lümmel guckte mich unbegeistert
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