Karlebachs Vermaechtnis
trank einen Schluck und reichte ihn mir. Dann wusch er sich in einer silbernen Schüssel die Hände und sprach das Tischgebet:
»Gepriesen seist du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der hervorbringt Brot aus der Erde.«
Anschließend fuhr er mit einem Messer über die Brote und gab mir ein Stück von dem angeschnittenen und mit Salz bestreuten Brot.
»Am Schabbat ist jeder Jude ein König in seiner Stube«, sagte er fröhlich und verschwand in der Küche. »Ich bin leider kein guter Koch«, schmunzelte er, als er mit einem Tablett zurückkehrte, »also habe ich mir unser Festessen bringen lassen. Greifen Sie zu und trinken und essen Sie! Möge es Ihrem Wohlbefinden dienen!« Die feierliche Eröffnung des Schabbats, das üppige Mahl und der Rotwein ließen mich meine Sorgen vergessen. Ich dachte weder an Fatma, noch an Abu Shaban, Yassir und die anderen, noch an Umm Suitanas Prophezeiung. Karlebach erzählte köstliche Schnurren und Anekdoten, und wir lachten viel und herzlich.
»Nun wollen wir es uns ein wenig bequem machen«, meinte er nach dem abschließenden Tischgebet. »Lassen Sie uns ins Wohnzimmer gehen!«
Gesättigt und mit einem grunzenden Laut des Wohlbehagens ließ ich mich in einen tiefen Sessel fallen. »Ihnen brennt sicher die Frage auf dem Herzen«, begann Karlebach, »was mich zu meiner plötzlichen Reise nach New York veranlasst hat. Aber ich muss Sie noch um Geduld bitten. Zunächst möchte ich Ihnen in aller Kürze erzählen, wie ich das Dritte Reich überlebt habe.«
»Bitte«, sagte ich.
»Nun, es war eine groteske Situation. Schlomo Karlebach kauerte im Kaninchenstall und traute sich nicht hinaus. Es war ein Wunder, aber in dem Durcheinander hatte keiner der SS-Männer bemerkt, dass ich nicht unter den Deportierten war. Ich erwartete, dass mich jeden Augenblick jemand aus dem Versteck zerren würde, aber es geschah nichts. Der Lastwagen war abgefahren, die Menge hatte sich zerstreut, war in den Gasthof oder nach Hause gegangen, und Schlomo Karlebach hockte im Kaninchenstall und schämte sich. Und fühlte sich schuldig. Doppelt schuldig, denn jetzt hatte ich auch noch meine Eltern und Schwestern im Stich gelassen. Ich hatte sie alleine ziehen lassen. Ich überlegte, wie lange ich es in dem Verschlag aushalten könne, aber schon nach Einbruch der Dunkelheit verspürte ich einen solchen Hunger, dass ich etwas unternehmen musste. Bis auf ein paar verschimmelte Möhren hatte ich nichts Essbares gefunden. Später, nebenbei bemerkt, wäre jeder noch so trockene Strohhalm wie ein Festmahl gewesen.
Ich weiß nicht, was mich trieb, vielleicht war es meine jugendliche Unbekümmertheit, aber gegen Mitternacht verließ ich den Kaninchenstall. Das Judenhaus befand sich mitten im Dorf, Sie wissen es, und im Gasthof brannte noch Licht. Ich hörte das Grölen von Pietsch und seinen Kumpanen bis auf die Straße hinaus. Zitternd vor Angst schlich ich durch die Gassen und irgendwann landete ich vor Bernhards Haus. Ich wagte zu klopfen. Bernhard öffnete und als er mich sah, schloss er mich in die Arme. All die Anspannung löste sich und ich konnte weinen und weinen. Bernhard ließ mich gewähren.
Dann ergriff er die Initiative. Sie werden bald feststellen, dass sie dich vergessen haben, sagte er. Und dann werden sie jedes Haus durchsuchen. Wir müssen uns etwas einfallen lassen.
Er führte mich in den Keller und wir zimmerten in seiner Werkstatt einen Verschlag. Wir umwickelten die Hämmer mit einem Tuch, um keinen Lärm zu machen. Gegen morgen, kurz bevor Bernhard zur Arbeit musste, waren wir so weit fertig. Der Verschlag war von außen nicht erkennbar. Wir hatten einfach eine zweite Wand in den Vorratskeller gebaut. Und zwischen den Kisten mit eingelagerten Kartoffeln und Obst und den Regalen mit Einweckgläsern fiel die neue Wand nicht auf. Seiner Frau, die von alledem nichts mitbekommen hatte, wollte Bernhard nach Feierabend Bescheid sagen. Bernhard ging zur Arbeit und ich kroch in meine Kiste. Es war dunkel und stickig, aber ich fühlte mich in Sicherheit.
Wie Bernhard vorausgesehen hatte, zogen die SS-Männer und viele Polizisten noch am Vormittag durchs Dorf und kontrollierten jedes Haus. Sie standen wenige Zentimeter vor mir, aber sie fanden mich nicht. Als sie wieder gegangen waren, kehrte Bernhards Frau zurück und betastete den Verschlag. Erst entdeckte sie eine kleine Öffnung, dann mich. Erschrocken schrie sie auf. Zum Glück war ihr Mitleid größer als der Zorn auf ihren Mann. Sie
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