Karlebachs Vermaechtnis
seiner Tochter anhältst.«
30
Am Freitag saß ich im Kaffeehaus und wusste nicht, was ich tun sollte. Die ganze Woche hatte ich keinen klaren Gedanken fassen können. Ich war auf den Sinai gereist, um in der Abgeschiedenheit der Wüste wieder zu mir zu finden. Aber es hatte mir nichts eingebracht außer einem Sonnenbrand und einer Erkältung. »Du musst jetzt leider gehen«, sagte Lea fürsorglich. »Ich kann das Cafe für dich nicht fänger geöffnet lassen. Hör auf deine innere Stimme, dann wirst du die richtige Entscheidung treffen!«
»Wenn es doch nur eine Stimme wäre …«, jammerte ich. »Aber es sind drei. Und alle haben sie recht.«
»Dann musst du eben deinen Verstand einschalten. Hast du schon eine Positiv-negativ-Liste aufgestellt?« Ich kramte ein ganzes Bündel Papier aus meiner Tasche. »Die gesammelten Positiv-negativ-Listen in einer mehrbändigen Taschenbuchausgabe.«
»Dann kann ich dir auch nicht mehr helfen«, sagte Lea betrübt. Sie gab mir zum Abschied zwei Wangenküsse und winkte mir zu: »Mazel Tov! Viel Glück!« Ich streunte vor dem Kaffeehaus herum und wusste nicht wohin. Ins Hotel konnte ich nicht, denn einem meiner arabischen Freunde würde ich dort mit Sicherheit über den Weg laufen. Andererseits, eine zufällige Begegnung mit ihnen nähme mir die Entscheidung ab. Sie würden mich bis zum Abend nicht mehr aus den Augen lassen, dann in Yassirs Taxi nach Bethlehem setzen und so lange vor Abu Shabans Haus warten, bis ich bei ihm um die Hand seiner Tochter angehalten hätte. Ich fühlte mich wie der legendäre Herkules am Scheideweg. Ich konnte mich nicht länger vor der Entscheidung drücken.
Meine Füße trugen mich aus der Stadt hinaus, durchs Kidrontal in den Garten Gethsemane. Zwischen den uralten Ölbäumen fühlte ich mich seltsam geborgen. Jetzt verstehe ich, Herr, wie es dir damals ergangen sein muss, dachte ich.
»Was ist deine Entscheidung gegen die, die er damals treffen musste?«, wies mich meine innere Stimme zurecht. »Verzeih mir, Herr«, bat ich und fiel nach einer Weile in einen tiefen Schlaf.
Die barsche Stimme eines Wächters riss mich unsanft aus meinem Schlummer. »Sleeping forbidden!«, brüllte er. Ich schreckte hoch und hörte im selben Augenblick die Sirene heulen, die den Beginn des Schabbats ankündigte. Ich sah nun klar, was ich zu tun hatte.
31
»Schabbat Schalom!«, begrüßte mich Schlomo Karlebach. Er trug einen dunklen Anzug und ein weißes Hemd mit Krawatte. »Ich freue mich, dass Sie gekommen sind!«
»Ja«, sagte ich mit matter Stimme. »Ich freue mich auch.« Zur gleichen Stunde würde am Damaskustor in Jerusalem der Ingenieur Yassir Bader in seinem Taxi sitzen und vergeblich auf seinen Fahrgast nach Bethlehem warten. In Bethlehem würde der Händler Abu Shaban in seinem kleinen, nahe der Geburtskirche gelegenen Laden sitzen und vergeblich auf das Taxi warten, dass ihm seinen künftigen Schwiegersohn bringen sollte. Und in einem kleinen Zimmer über dem Laden würde die Perle Palästinas sitzen und auf ihren Vater warten, der ihr … Daran durfte ich jetzt nicht denken. Nein, ich durfte nicht daran denken. »Herzlich willkommen! Lassen Sie uns gemeinsam das Schabbatmahl einnehmen!«
»Bitte verzeihen Sie, ich trage wohl nicht die passende Kleidung«, entschuldigte ich mich.
»Der Allmächtige ist groß und gütig. Er wird ein Auge zudrücken.«
Ob Abu Shaban auch ein Auge zudrücken würde? Karlebach geleitete mich in sein kleines Esszimmer. Den Tisch hatte er mit einem Damasttuch geschmückt. In die Mitte hatte er zwei Leuchter gestellt. Unter einem weißen Tuch lagen zwei Hefezöpfe, neben dem Kidduschbecher stand eine Flasche Rotwein.
Ob Abu Shabans Frau auch ein Festmahl vorbereitet hatte? »Ich lebe allein«, lächelte Karlebach, »ich muss also bei der Eröffnung des Schabbatmahls die Rolle der Frau mit übernehmen.«
Ob ich später auch einmal allein leben würde? Karlebach zündete die Kerzen an, breitete die Hände über das Licht, bedeckte mit seinen Handflächen die Augen und sprach den Lichtersegen:
»Gelobt seist du, Herr, unser Gott, König der Welt, der du uns geheiligt hast durch deine Gebote und uns geboten hast, das Schabbatlicht zu entzünden.«
Dann sang er das Lied des Schabbatfriedens, das er mit den Worten des Psalms beendete:
»Denn er hat seinen Engeln befohlen, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen.«
Karlebach füllte anschließend den Becher bis zum Rand mit Wein, segnete ihn,
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