Karlebachs Vermaechtnis
dachte ich, während ich unaufhörlich in meinem Zimmer auf und ab ging. Simona bei meinem Bruder! War er etwa ihr Freund? Ich konnte jetzt unmöglich ins Bett gehen. Deborah, Simona und das Judenhaus schwirrten mir durch den Kopf. Ich musste mich auf andere Gedanken bringen. Auf in den Hades, sagte ich halblaut.
Am Tresen hockte der Herr Kaiser, die Sporttasche zwischen seine Füße geklemmt. Er spielte mit seinem Deckel, auf dem der Wirt schon fünf fette Striche gemacht hatte. »Das wurde ja langsam Zeit«, empfing er mich.
»Ich hatte noch zu tun.«
»Also doch.«
»Was?«
»Frauen.«
Der Hadeswirt servierte mir mein Hefeweizen. Ich leerte das halbe Glas in einem Zug.
»Du brauchst mir gar nichts zu sagen.« Herr Kaiser legte verständnisvoll seinen Arm um meine Schulter. »Aber du sollst wissen, ich bin immer für dich da.« Ich bekam von der Kohlensäure einen fürchterlichen Schluckauf und konnte auch gar nichts mehr sagen. »Eine Partie Backgammon?«
Ich nickte. Der Schluckauf trieb mir Tränen in die Augen. »Ist es wirklich so schlimm?«, fragte Herr Kaiser seelsorgerlich.
Ich setzte die Steine und war drei Stunden später um neunzehn Mark und siebzig Pfennig reicher. Zuhause angekommen rief ich sogleich im One Way an. Nein, mein Bruder sei schon weg, teilte mir Andrea mit. »Alleine?«, fragte ich.
»Det möchteste wohl jerne wissen, wa!«, berlinerte sie. Ich druckste herum.
»Ne, alleene is er nich jegangen. War ne tolle Braut, ‘n bisschen Schicki, aber sonst janz dufte, sach ick dir.«
»Danke«, sagte ich und legte auf.
Ich wählte die Nummer meines Bruders. Es klingelte zehn, zwölf, fünfzehn Mal, dann meldete sich eine verschlafene Stimme.
»Was willst du denn?«, raunzte mein Bruder mich an. »Weißt du, wie spät es ist?«
»Ja«, sagte ich, »zehn nach zwei.« Ohne Umschweife fragte ich: »Ist Simona bei dir?«
»Spinnst du?«
»Nein«, antwortete ich, »aber ich muss sie unbedingt etwas Wichtiges fragen. Wegen dem Judenhaus.«
»Geht nicht«, erwiderte mein Bruder, »sie schläft.«
»Dann weck sie eben!«, befahl ich. »Geht auch nicht.«
»Wieso nicht?«
»Weil ich keine Lust habe, ins Hotel Kempinski zu fahren.« Mein Bruder klang gereizt. »Wieso Kempinski?«, fragte ich erstaunt. »Weil sie dort übernachtet und morgen auf einem Historikerkongress eine Rede halten muss.« Er hatte aufgelegt. Ich fragte mich, ob Herr Kaiser nicht Recht hatte und ich vielleicht doch verliebt war. Aber in wen? In den zwei Wochen bis Weihnachten konzentrierte ich mich auf mein Studium und versuchte eine Antwort auf die Theodizeefrage zu finden. Ich vergrub mich, sofern es meine vielfältigen Verpflichtungen erlaubten, mit dem Kollegen Kaiser in die Gedankenwelt des Philosophen Schopenhauer. Die Geschichte mit dem Judenhaus wollte ich in den Weihnachtsferien recherchieren. Um unsere neue Beziehung nicht zu früh erkalten zu lassen, telefonierte ich hin und wieder mit Deborah, die mich mit allerlei Tratsch und Klatsch versorgte, aber kein Wort über das Testament verlor. Ich zwang mich zur Geduld, denn ich wollte keineswegs ihr Misstrauen hervorrufen. Von Simona hörte ich nichts mehr. Ich beschloss sie zu vergessen.
Meine Abende verbrachte ich im Hades, in dem traditionell vor Weihnachten ein Backgammonturnier ausgetragen wurde. Im vergangenen Jahr war ich Dritter geworden und hatte einen Pokal und zweihundertfünfzig Mark gewonnen. Dieses Jahr lief es jedoch weniger gut. Ich hatte eine einzigartige Pechsträhne. Wenn mein Gegner eine unmögliche Zahlenkombination brauchte - er bekam sie. Leute, die seit Monaten jedes Spiel verweigert hatten, weil sie gegen mich keine Chance sahen, besiegten mich. Es war wie verhext. Je mehr ich spielte, desto mehr verlor ich. »Der Gott der Würfel hat mich verlassen«, klagte ich. »Eine solche Pechsträhne widerspricht jeder Wahrscheinlichkeitsrechnung. Wo bleibt hier die Gerechtigkeit?«
» Das Leben stellt sich dar als ein fortgesetzter Betrug, im Kleinen wie im Großen«, versuchte mich Herr Kaiser mit Schopenhauers Worten zu trösten. »Hat es versprochen, so hält es nicht. Hat es gegeben, so war es, um zu nehmen. Solche Phasen hat jeder mal im Leben.«
»Und das drei Tage vor Weihnachten«, jammerte ich. »Jeder befriedigte Wunsch gebiert einen neuen. Das Glück also liegt stets in der Zukunft.«
»Oder in der Vergangenheit. Und die Gegenwart ist einer kleinen dunklen Wolke zu vergleichen, welche der Wind über die besonnte Fläche treibt. Vor
Weitere Kostenlose Bücher