Karlebachs Vermaechtnis
musste in seiner blinden Wut meine Schuhe übersehen haben, die mitten im Kellergang standen. Ich zog sie schnell an, dann griff ich in meine Jacke. Das Feuerzeug, das ich aus Versehen bei Simona eingesteckt hatte, befand sich noch in der Tasche. Ich löschte das Licht im Keller, schloss die Tür und tippelte auf Zehenspitzen in Richtung Treppe, die in die Wohnung führte. Unter der Tür schimmerte ein schmaler Lichtstreifen. Heiligs waren noch wach. Ich schlich, doppelt vorsichtig, zurück. Durch die Garage, sagte ich mir. Mit Hilfe des Feuerzeugs konnte ich den Kellergang bequem durchqueren. Die Eisentür zur Garage war unverschlossen. Ich knipste das Licht an und zwängte mich an den drei Autos vorbei zum Garagentor. Es war verriegelt und ließ sich von innen nicht öffnen. In das Tor war eine kleine Tür eingebaut. Ich drückte die Klinke, aber es tat sich wieder nichts. So ein Mist, fluchte ich und lehnte mich an die Motorhaube von Heiligs Limousine. Ich schaute mich in der Garage um. Die beiden Fenster waren von außen vergittert. Keine Chance. Mit einem Auto das Garagentor zu durchbrechen würde zu viel Aufmerksamkeit erregen. Außerdem wüsste ich nicht, wie man einen Wagen kurzschließt. Also wieder zurück und doch durch die Wohnung?
Moment mal! Die Heiligs waren ordentliche Menschen. Und ordentliche Menschen hatten, für alle Fälle, immer irgendwo einen Zweitschlüssel versteckt. Aber wo? Ich grübelte angestrengt nach. Mein Blick wanderte über die Wände. Selbst in der Garage hatten die Heiligs Bilder mit frommen Sprüchen aufgehängt. »Jesus Christus spricht: Ich bin die Tür«, las ich halblaut. Ich folgte einer inneren Eingebung, sprang auf und nahm das Bild von der Wand. Und fand einen Nagel, an dem zwei Schlüssel baumelten. Hallelujah! jubelte ich.
Ich sprintete zur Tür, der Schlüssel paßte. Vorsichtig schloss ich auf, brachte den Schlüssel zurück und hängte das Bild wieder auf. Ich spähte hinaus. Kein Laut war zu hören. Leise schloss ich die Tür hinter mir. Die Heiligs hatten die Garageneinfahrt penibel vom Schnee geräumt, ich würde also keine Spuren hinterlassen. Noch zwanzig Meter bis zum Gartentürchen, dann hätte ich es geschafft. Plötzlich war ein Scheinwerfer auf mich gerichtet. Ich erschrak zu Tode, blieb stehen und hob automatisch die Hände. Ich erwartete, dass mich ein Poüzist festnahm, aber nichts dergleichen geschah. Ich hatte nur einen Sensor ausgelöst. Noch zehn Meter bis zum Gartentürchen. »Da ist doch jemand!«, hörte ich Miriam kreischen. »Halt stehen bleiben!«, brüllte Heilig. »Oder ich schieße!« Ich hetzte los. »Halt oder ich schieße!«
Ich hatte das Gartentürchen erreicht. Ein Schuss peitschte durch die Nacht. Der ist verrückt! schimpfte ich. Der bringt dich um! Noch ein Schuss fiel. Ich rannte um mein Leben. Unten an der Kreuzung sah ich meinen Florian. »Lieber Gott«, betete ich, »lass ihn anspringen.« Zum Glück hatte ich vergessen, den Wagen abzuschließen. Mich ängstlich umschauend hüpfte ich hinters Steuer. Wieder und wieder drehte ich mich um, während ich Florian startete. Niemand schien mir gefolgt zu sein. Abgehängt!, jubelte ich. Florian sprang beim ersten Versuch an, im Radio lief »Knocking on heaven’s door«, ich raste in die Dunkelheit. Auf der Hauptstraße fuhr mir mit hoher Geschwindigkeit ein Polizeiauto entgegen.
9
Als ich gegen halb drei zu Hause eintraf, war ich völlig mit den Nerven runter. Ich brauchte jemanden zum Reden und versuchte meinen Bruder zu wecken, aber der reagierte nicht. Mürrisch schlurfte ich in mein Zimmer. Auf dem Kopfkissen lag ein Zettel. »Ulrich, wo treibst du dich bloß rum? Du kommst ja gar nicht mehr nach Hause. Eine Frau Sorbass hat für dich angerufen. Du sollst dich unbedingt melden. Schlaf gut. Deine Mutter.« Ich wälzte mich in meinem Bett und konnte nicht einschlafen. Hatten mich die Heiligs erkannt? Was stand in den Briefen? Warum versteckte Vater Heilig sie vor mir? Hätte er mich erschossen? Was war beim Judenhaus vorgefallen? Würde ich die Redakteursstelle bekommen? Sollte ich mein Studium endgültig abbrechen? Liebte ich Deborah oder Simona oder keine oder beide? Mir wurde alles zu viel. Ich sprang wieder auf, nahm eine Hand voll Baldrianpillen und schrieb meiner Mutter einen Zettel, dass sie mich unbedingt um acht Uhr wecken solle. Eine halbe Stunde später sank ich in einen bleiernen Schlaf.
Ich erwachte mit einem fürchterlichen Kopfweh. Und meine Mutter nervte
Weitere Kostenlose Bücher