Karlebachs Vermaechtnis
treffen.«
Deborah kuschelte sich an mich. »Ich hatte mir so gewünscht, dich heute noch zu sehen.«
»Hast du die Briefe?«, drängte ich. »Du hast nur die Briefe und das Testament im Kopf«. »Entschuldige.« Ich küsste sie. »Wann kann ich die Briefe lesen?«
Deborah steckte mir einen Schneeball in den Kragen und lief davon. Ich rannte ihr nach, rutschte aus und landete in einer Hecke. Deborah half mir wieder auf die Beine und klopfte den Schnee von meiner Hose. »Sie liegen bei uns im Keller. Wenn meine Eltern schon schlafen, kannst du dich vielleicht hineinschleichen.«
»Du bist ein Schatz!«, lobte ich sie.
Deborah fuhr mit ihrem Kleinwagen vorneweg, ich schlitterte mit Florian hinterher und stieg vor der Auffahrt zu Heiligs Haus in ihren Wagen. Im Wohnzimmerfenster leuchtete noch ein Schwibbogen, sonst war alles dunkel. »Sie schlafen schon«, sagte Deborah. »Du bleibst im Auto und steigst dann in der Garage aus. Von dort gelangen wir in den Keller.«
Deborah parkte ihren Wagen neben der Limousine ihres Vaters.
»Toller Schlitten«, sagte ich zu Deborah. »Der hat doch mindestens Hunderttausend gekostet.« Sie nickte. »Mindestens!«
»Wo habt ihr denn das viele Geld her? Ich meine, äh, dein Vater …«, druckste ich.
»Mein Vater sagt, das ist das sichtbare Zeichen, dass uns der Herr gesegnet hat.«
»Und so einen Blödsinn glaubst du?« Deborah lotste mich in den Keller. »Zieh deine Schuhe aus, damit du keinen Dreck machst«, flüsterte sie. Wir schlichen in einen Raum, der vollgestapelt war mit Opa Bernhards Sachen. Ich erkannte den alten Lehnstuhl, in dem er seinen Mittagsschlaf hielt, fand seine Kaffeetasse, seinen Krückstock und seinen Hut. Auf dem Boden sichtete ich eine zerknitterte Eintrittskarte für einen Zirkus. Ich hob sie auf und strich sie glatt. Das Datum war noch erkennbar: 25. April 1974. Der Zirkus gastierte in unserem Nachbarort. Opa Bernhard und ich waren den Weg dorthin gelaufen. Es war ein kleiner Zirkus - ein Clown, ein paar Artisten, einige Ponys, ein Tiger und ein Kamel. Ich durfte auf dem Kamel reiten. Und auf dem Heimweg kaufte mir Opa Bernhard ein Eis. Abends teilte ich meinen Eltern mit, dass ich bei ihnen ausziehen und mir ein Zimmer bei Opa Bernhard nehmen wollte. Sie lachten mich aus. Am nächsten Tag ging ich von der Schule nicht nach Hause. Ich stiefelte zu Opa Bernhard. Aber er war nicht daheim. Mutter Heilig öffnete die Tür und schickte mich wieder fort. Ich wartete vor dem Grundstück, bis mich irgendwann meine Mutter holte. Am nächsten Tag lief ich wieder zu Opa Bernhards Haus. Diesmal öffnete mir die kleine Deborah. Opa Bernhard sei im Krankenhaus, sagte sie, er müsse bald sterben. Ich wusste, das Sterben etwas Schlimmes bedeutet und bekam Angst. Opa Bernhard habe ein krankes Herz, erklärte mir die kleine Deborah. Er sei operiert worden und habe viele Schläuche im Mund und in der Nase. Niemand könne ihm mehr helfen. Nur der Herr Jesus könne ihn noch retten. Ich rannte zur Bushaltestelle und wollte ins Krankenhaus fahren. Opa Bernhard hatte mir geholfen, also wollte ich ihm auch helfen. Doch ehe der Bus kam, fand mich meine Mutter und schleppte mich nach Hause. »Hier sind sie!« Deborah unterbrach meine Reise in die Vergangenheit. Sie hielt einen Schuhkarton in der Hand und öffnete den Deckel. Sie reichte mir den Karton und zog ihn ruckartig wieder zurück, als ich ihn nehmen wollte. »So einfach ist das nicht«, lächelte sie. »Du musst ihn dir verdienen!« Sie stellte den Karton hinter sich auf den Boden.
»Mach keinen Quatsch«, sagte ich, »wenn uns deine Eltern hören …« Ich spürte, dass es noch Ärger geben würde, und wollte so schnell wie möglich das Haus verlassen. »Hier hört uns niemand«, flötete Deborah und führte meine Hand an ihre üppige Brust. Sie presste sich an mich. »Bitte«, keuchte ich, »nicht jetzt.« fch musste einen klaren Kopf behalten und stieß Deborah sanft zurück. Sie schmollte.
Ich schaute zu dem Karton mit den Briefen, dann zu ihr. Deborah lockerte ihr Haar, das sie hoch gesteckt hatte, und ließ es auf ihre Schultern fallen. Ich konnte mich nicht entscheiden. Ohne Zweifel war sie begehrenswert. Was sollte ich tun? Die Briefe lesen? Die konnten eigentlich warten. Mit Deborah … Das konnte auch warten. »Du liebst mich nicht«, sagte Deborah und knöpfte ihre Bluse auf. Ich musste plötzlich an Simona Zorbas denken. »Deborah«, sagte ich so sanft wie möglich. »Erst die Arbeit, dann das
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