Karma-Attacke (German Edition)
ganz bewusst auf. Zunächst die Hacke, dann rollte er bis zur Spitze ab. Die Schuhriemen mit ihren plastikverstärkten Spitzen fielen mit leisem Tack-tack auf den Boden. Dazwischen das Quietschen des Leders. Alle anderen Geräusche wurden von der Umwelt verschluckt. So kam es Tom jedenfalls vor. Ein bisschen wie im Kino, wenn die Kamera ein winziges Detail hervorhob und die Geräusche, die von dort kamen, alles andere übertönten. Das Geschwätz der Menschen und den fernen Straßenverkehr. Er sah seinen eigenen Füßen beim Laufen zu.
Auf der Straße schaute Höss sich noch einmal um. Oben am Fenster stand Gudrun May und drückte ihm demonstrativ die Daumen.
Per Fernbedienung löste Höss die Zentralverriegelung des blauen Renault Mégane. Tom stand an der Beifahrertür, öffnete sie aber nicht. Erst als Höss hinterm Lenkrad saß, wurde ihm klar, dass er Tom in den Wagen holen musste. Er beugte sich über den Sitz, öffnete die Tür von innen und bat Tom einzusteigen. Tom gehorchte.
«Haben sie Ihnen Medikamente gegeben?», fragte Höss. «Sie wirken so verlangsamt. Das war unzulässig. Wenn Sie wollen, kann ich die auf Schmerzensgeld verklagen.»
Tom schüttelte den Kopf. «Nein. Nicht nötig. Bringen Sie mich einfach nur nach Hause.»
Die Fahrt über schwieg er eisern. Höss tat so, als könne er die Ägidienberger Straße nicht finden, in der Hoffnung, wenigstens darüber mit Tom ins Gespräch zu kommen, doch Tom antwortete nicht. Seine Gedanken kreisten um eine einzige Frage: Wie konnte er Kontakt zu Vivien aufnehmen?
Zu Hause angekommen, setzte er sich vors Telefon und wartete.
72
Gudrun May wollte nicht warten, bis Höss zurückkam. Sie begab sich zu Marga Vollmers in die Zelle und erklärte ihr knapp: «Es liegt nichts gegen Sie vor. Sie sind frei. Sie können gehen, wohin Sie wollen.»
Im selben Moment bereute sie ihren Leichtsinn. Marga Vollmers reagierte nicht so friedlich und verhalten wie Tom Götte, sie ging auf May los.
May hatte den braunen Gürtel im Judo. Zweimal hatte sie um die Stadtmeisterschaft gekämpft, doch Marga drückte sie einfach mit ihrem ganzen Gewicht gegen die Wand und biss ihr in Hals und Schulter.
Gudrun May kreischte. Als endlich Hilfe kam, blutete sie, als wäre sie von einem Hund angefallen worden.
«Ihr habt mein Leben ruiniert, ihr Schweine!», keifte Marga. Dann brach sie plötzlich zusammen. Diese hysterische, aggressive Frau versank in einem Meer von Tränen. Wäre May vor Schmerzen nicht halb toll gewesen, sie hätte Rührung empfinden können.
Wie bei einem Baby platzte eine Schnodderblase aus Margas Nase.
«Wie soll ich ihn denn jetzt je wiederfinden? Wie?», klagte sie.
73
Tom zog sich vor dem Telefon aus. Erst als er ganz nackt war, ging er ins Badezimmer. Er ließ die Tür offen, um nur ja keinen Anruf zu verpassen. Hastig sprang er unter die heiße Dusche.
In den verschwitzten, dreckigen Klamotten wollte er Vivien nicht unter die Augen treten. Er zog seine Westernstiefel an, die neuen 501 und das weiße Baumwoll-T-Shirt. Die schwarze Lederjacke. Dann packte er seine kleine Camel-Tasche. Er wollte bereit sein.
Die Schuhe mit den Peilsendern in den Hacken und der präparierte Gürtel lagen vor dem Telefon. Darüber seine Unterhose, das durchgeschwitzte Hemd und die ausgefransten Jeans.
74
Endlich, endlich schlief er. Sein Gebiss mahlte, als zerriebe er Glassplitter zwischen den Zähnen. Sein Atem ging gleichmäßig, seine rechte Hand lag offen und schlapp auf der Bettdecke.
Vivien hob die Hand ein paar Zentimeter hoch und ließ sie wieder fallen. Dann schob sie sich vorsichtig aus dem Bett. Die Matratze knarrte. Je mehr sie sich bemühte, kein Geräusch zu machen, desto lauter kam ihr alles vor. Das Rascheln der Bettdecke. Sogar der Fußboden knarrte, nur weil sie sich im Bett bewegte.
Der Professor drehte sich auf die Seite.
Vivien hielt die Luft an.
Dann benutzte sie die Tricks, die sie von ihm gelernt hatte. Sie wusste, dass man in diesem Dämmerzustand zwischen Wachsein und Schlaf von einer sanften Stimme geführt werden konnte. Er hatte es oft genug mit ihr getan.
«Es ist alles in Ordnung», hörte sie sich sagen. «Schlaf einfach weiter. Du brauchst den Schlaf. Entspann dich.»
Sein Kopf schien tiefer ins Kissen zu sinken. Die Anspannung um die Lippen herum ließ nach, nur das mahlende Geräusch hielt an. Wenn er den Unterkiefer vorschob, hätte Vivien sich vor ihm fürchten können.
Jetzt stand sie vor dem Bett. Sie machte kein Licht,
Weitere Kostenlose Bücher