Karma-Attacke (German Edition)
sondern schob nur den Vorhang ein wenig beiseite, sodass von draußen etwas Helligkeit hereinkam. So konnte sie sich im Spiegel sehen.
Mit wenigen Handgriffen verwandelte sie sich wieder in Niklas. Dabei hatte sie sich selten so sehr als Frau gefühlt wie jetzt. Sie spürte eine heftige Sehnsucht. Sie wollte einen Jungen kennen lernen. Gern hätte sie sich die Lippen rot gemalt. Die Fingernägel lackiert. Einen kurzen Rock angezogen und hochhackige schwarze Schuhe.
Wann, dachte sie, werde ich endlich in meiner eigenen Haut leben können? Nicht eingeschlossen in eine Psychiatrie oder in ein Hotelzimmer. Wann kann ich endlich die Kleider tragen, die mir gefallen; die Leute treffen, die ich sehen will; Freunde haben, ausgehen …
Ihr wurde klar, dass sie überhaupt kein Geld hatte. Das Portemonnaie des Professors lag auf dem Nachttischchen. Sie kroch auf allen vieren hinüber. Das Portemonnaie lag keinen halben Meter vom Kopf des Professors entfernt. Es war prallvoll. Vivien zupfte zwei Scheine heraus. Sie schaute sich das Schweizer Geld in Ruhe an, einmal hundert und einmal fünfzig Franken. Das sollte reichen.
Er hatte das Zimmer von innen verriegelt. Der Schlüssel krachte schwerfällig im Schloss. Vivien erstarrte. Professor Ullrich wälzte sich noch einmal im Bett herum. Er schnüffelte. Küchendünste beruhigten ihn. Es roch nach Kürbiscremesuppe und gebratenem Wild.
Leise schloss Vivien die Tür hinter sich. Ihr Herz schlug vor Freude schneller. Sie überlegte, ob sie Tom anrufen sollte, die Nummer kannte sie auswendig. Sie wollte ihm sagen, Tom, ich will mit dir Liebe machen. Aber sie wusste, dass sie sich das niemals trauen würde.
Sie ging durch den verwinkelten Flur und die Treppe herunter, vorbei an einer kleinen Sitzecke. Ein Strauß getrockneter Blumen stand auf dem Tisch. Auch dies schien ihr ein guter Platz für Verliebte.
Frau Moser an der Rezeption nickte ihr freundlich zu. Vivien machte sich ganz gerade, um männlicher zu wirken. Mit staksigem Schritt trat sie ins Freie und sog die milde Abendluft ein. Einerseits wollte sie raus in die Stadt, Leute sehen, sich ins Leben stürzen, tanzen, Cola trinken, sich verknallen, andererseits klebte sie geradezu an diesem Hotel fest.
Ein Zittern breitete sich von den Knien her in ihr aus und erreichte ihre Hände. Nur mühsam konnte sie die Zähne daran hindern, aufeinander zu klappern. Ihre Lippen bebten. So wollte sie von niemandem gesehen werden. Jetzt hatte die Angst sie ganz.
Du wirst nie ein normales Leben führen können. Sie hörte die Stimme des Professors, als säße er in ihrem Kopf. Ein Hillruc-Fürst ist hinter dir her. Er hat die Jahrtausende durchwandert und das Weltall nach dir durchsucht. Jetzt hat er dich gefunden. Du kannst nicht erwarten, ein Leben zu führen wie alle anderen.
Vivien fühlte sich mies. Sie hatte den Professor betrogen. Sie hatte ihm sogar Geld gestohlen. Ihm, der seine Karriere geopfert hatte, um sie in Sicherheit zu bringen. Er hatte sie vor ihrem Vater gerettet. Er hatte sie beschützt und sie hatte ihn hintergangen. Schon wieder lief sie ihm weg. Was, wenn er sich von ihr abwendete? Was, wenn sie zurückkam nach ihrem fröhlichen Abend in der Luzerner Altstadt und er nicht mehr da war?
Tränen schossen ihr in die Augen. Sie ärgerte sich darüber. Wenn mich jemand so sieht, dachte sie. Da stehe ich in Jungenklamotten vor dem Hotel, starre auf den See und heule. Ich gehöre wirklich in die Psychiatrie.
Sie schaute zum Pilatus hinauf. Dort oben blinkten bunte Lichter. Überhaupt war die ganze Stadt auf mittelalterliche Art erleuchtet.
Vivien riss sich los und ging zunächst ein paar Schritte in Richtung Kirche. Doch von dort kam ihr jemand entgegen, ein Mann mit wehendem Sommermantel und in die Stirn gezogenem Hut. Er war ihr unheimlich. Sie machte kehrt und rannte durch ein paar Gassen, blieb jedoch immer in der Nähe des Wassers. Ihre Schritte wurden langsamer. Die zahllosen Türme, Brunnen und schönen alten Häuser hatten etwas Unwirkliches; sie fühlte sich regelrecht in die Vergangenheit zurückversetzt.
Vom anderen Ufer wehten Gerüche von gegrilltem Lammfleisch und heißen Maroni herüber. Endlich kam sie bei der Holzbrücke an. Staunend blieb sie stehen. War diese Brücke echt, oder träumte sie das nur? Liege ich vielleicht noch im Hotel Rebstock und schnarche? Solche Brücken gibt es doch gar nicht, wahrscheinlich gab es die nicht mal im Mittelalter. Sie berührte das Holzgeländer, um sich zu
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