Karma-Attacke (German Edition)
kannte Vivien ihn nicht, so unentschlossen, zögerlich. Sie registrierte es mit einer gewissen Genugtuung.
Wenn er wirklich Josch ist, dachte sie, würde er dann in die Kanalisation hinabsteigen und mich allein lassen? Nein, das würde er nicht … Und wenn er Toi wäre, hätte er Angst, dass ich in der Zwischenzeit fliehe. Ich könnte den Deckel wieder auf den Gully legen und verschwinden.
Sie wollte ihn in seinen Handlungen erkennen, bevor es zu spät war.
Ein Liebespaar schlenderte über den Hirschenplatz. Die beiden waren viel zu sehr mit sich beschäftigt, um zu bemerken, was vor sich ging.
Professor Ullrich bückte sich und hob den Deckel. Er war sicher, dass Tom versuchen würde, mit Vivien zu fliehen.
«Komm mit nach unten, Vivien», krächzte er und erschrak über seine eigene Stimme. «Bei mir kann dir nichts geschehen. Ich hab dich die ganze Zeit beschützt. Warum soll das, was bisher richtig war, plötzlich falsch sein?»
Vivien schüttelte nur stumm den Kopf.
«Dann soll er mitkommen.» Ullrich zeigte auf Tom.
Aber der weigerte sich. «Einer von uns beiden wird bei ihr bleiben. Allein ist sie in zu großer Gefahr. Dieser Toi kann hier überall sein!»
Viviens Stimme war kalt. «Ihr müsst euch meinetwegen keine Sorgen machen. Selbst wenn Toi käme, um mich zu holen, würde er mich nicht einfach vergewaltigen. Er wusste immer genau, wann der richtige Tag für die Tschikas gekommen war. Er kann den Eisprung riechen. Ich blute noch, Professor. Er wird meine fruchtbaren Tage abwarten.»
Ullrich stellte sich über den dunklen Schacht und steckte sich die Taschenlampe in den Mund. Unter ihm quietschten Ratten.
Vivien half ihm beim Einsteigen. Bevor er in dem dunklen Loch verschwand, sah er sie noch einmal mahnend an. Ihr wurde schmerzlich bewusst, dass dieser Mann alles über sie wusste. Vermutlich viel mehr als sie selbst. Zum ersten Mal machte sie sich klar, dass der Professor in der Klinik immer genau Buch geführt hatte. Es war sogar täglich ihre Temperatur gemessen worden. Warum hatte er das so genau wissen wollen? Über alles hatte sie mit ihm gesprochen. Auch über ihre Regel, und wenn kurz davor der große Weltschmerz gekommen war, hatte er sie manchmal aufgeheitert.
Ihr Schicksal war so eng mit seinem verknüpft. Er war wichtiger für sie als ihr Vater, wichtiger selbst als ihre tote Mutter, als irgendwer sonst. Niemand wusste, wie oft er ihr das Leben gerettet hatte. Er war ihr heimlicher Beschützer, immer für sie da. Sie spürte, dass er bereit gewesen wäre zu sterben, um sie zu schützen. Wie schmerzlich musste ihr Verdacht für ihn sein.
«Lass uns abhauen», sagte Tom und stieß sie an.
Sie rührte sich nicht.
«Hey, was ist los mit dir?»
Langsam wie jemand, der aus einer Narkose erwacht, drehte sie sich zu Tom um und lächelte ihn an. Er, dachte sie, weiß nichts über mich. Nichts. Und doch muss er mit mir zusammen auf Thara gewesen sein. Ganz in der Nähe von Uta, Josch und Toi. Woher sonst soll er von Lin wissen?
Schnelle Schritte hallten über den Platz.
«Weg hier!», schrie Tom und rannte los.
Er wollte Vivien mit sich ziehen, doch sie schüttelte ihn ab. Panisch in Richtung des näher kommenden Geräusches blickend, beschwor er Vivien, mit ihm zu kommen. Schließlich ließ er sie los und floh, doch schon nach ein paar Metern blieb er stehen und drehte sich um.
Van Ecken war bereits bei ihr. Er packte sie, hob sie hoch und rannte mit ihr davon. Es sah aus, als hätte jemand seine Lieblingsschaufensterpuppe gestohlen und mit ihr die Flucht ergriffen.
Vivien zappelte nicht in seinem Arm, sie wurde steif. Van Ecken hielt sie mit der Linken, die Rechte umklammerte seine Dienstwaffe.
Als der Kopf von Professor Ullrich aus dem Schacht hochschnellte, stellte van Ecken Vivien wie ein Stück Holz ab und schob sie hinter sich.
«Bleib hinter mir, Kleine, bleib hinter mir. Keine Angst. Du bist in Sicherheit. Bleib immer hinter meinem Rücken. Ich werde ihn …»
Vivien umklammerte van Ecken von hinten mit beiden Armen. Ihre Angst war deutlich zu spüren. Er hatte die Waffe in beide Hände genommen. Sein Körper zitterte vor Aufregung. Die Lichtverhältnisse waren nicht gerade ideal für einen Schuss. Er wollte warten, bis Professor Ullrich ganz aus dem Schacht auftauchte. Jetzt hätte er ihm eine Kugel in den Kopf verpassen können, doch dann wäre der verletzte Mann nach unten gefallen, und der Gedanke, da hinunterzuklettern und nach ihm zu suchen, nicht wissend, ob er
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