Karma-Attacke (German Edition)
Die Intriganten, die, denen er schon lange im Weg war, die keine Lust mehr auf Fahrraddiebstähle hatten und nur darauf warteten, dass sein Posten in der Mordkommission frei wurde? Die würden versuchen, ihn für unzurechnungsfähig erklären zu lassen.
Er kannte keinen vergleichbaren Fall. Es gab Kollegen, die ein Alkoholproblem hatten. Einer von der Sitte war schwul. Einer vom Rauschgiftdezernat trug heimlich Damenunterwäsche. Das ließ sich alles klären. Jeder konnte auf kollegiales Verständnis hoffen. Aber einen, der schon mal als Mädchen auf der Welt war, so einen hatten sie noch nie.
Er zündete sich im Gehen eine Zigarette an. Der erste Zug machte sich sofort im Gehirn bemerkbar. Es war, als würde ihn das Nikotin wieder mehr ins Jetzt zurückholen, in sein Leben als Kripomann.
Seine Schritte hatten eine eigenartige Leichtigkeit bekommen. Zum ersten Mal seit langer Zeit rauchte er eine Zigarette ohne schlechtes Gewissen. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte er fünfzig am Tag geraucht. Klar würde ihn dieses Zeug eines Tages umbringen. Aber dann würde nur sein Körper sterben. Nicht er. Er würde wiederkommen und eine neue Runde drehen.
Er lachte und führte die Zigarette wieder zu seinem Mund. Doch dann warf er sie, ohne einen weiteren Zug zu machen, in einen Gully.
«Nein. So einfach nicht. So nicht», sagte er streng zu sich selbst.
Er ging zu Fuß nach Hause. Der Weg kam ihm gar nicht weit vor. Im Morgengrauen erreichte er seine Wohnung. Er fühlte sich eins und doch gespalten. Sein Körper war hundemüde und konnte nicht mehr, doch sein Geist und seine Seele waren frisch und voller Tatendrang.
Er hörte sich die Kassette sofort an und notierte sämtliche überprüfbaren Daten. Maria Wilbur. Berlin, Lindenstraße. Herrenbekleidungsgeschäft Fuchs. Die Eltern arbeiteten bei Fuchs. Sie im Haushalt, er als Schneider. Fuchs war im Kirchenvorstand. In welcher Gemeinde?
Am liebsten hätte er sofort um Amtshilfe beim Berliner Einwohnermeldeamt gebeten, doch es war gerade erst sechs Uhr früh. Er legte sich noch einen Moment hin. Nur sein Körper schlief. Sein Geist rotierte. Etwas an dieser Geschichte gruselte ihn und stimmte ihn heiter zugleich.
Die Überprüfung der Fakten stellte sich als unkompliziert heraus. Von 1903 bis 1926 hatte ein August Fuchs in der Lindenstraße in Berlin eine Schneiderei betrieben und ein Herrenkonfektionsgeschäft. Das Haus stand nicht mehr. Im Zweiten Weltkrieg war es zerbombt worden. Die Erben hatten es später wieder aufgebaut und 1954 verkauft. Über die Familie Wilbur war zunächst nichts in Erfahrung zu bringen. Aber Ackers richtete schriftliche Anfragen an sämtliche Melderegister, die dafür in Frage kamen, und er war bereit, sämtliche Zeitungsarchive nach dem Selbstmord eines siebzehnjährigen Mädchens namens Maria Wilbur zu durchforsten.
Er hatte eigentlich um neun im Büro sein wollen. Jetzt war es schon Mittag. Es kam ihm belanglos vor, und das wiederum wunderte ihn.
20
Vivien saß im Flur auf dem Boden. Ihr Nachthemd war weiß wie die Wand. Sie hatte die Knie darunter versteckt. Nur ihr großer Zeh lugte ein bisschen hervor. Neben ihr stand der Wagen mit der schmutzigen Wäsche.
Vivien sprach leise. Schon zweimal war ein Pfleger an ihr vorbeigegangen, ohne sie zu bemerken. Sie kannte das. Sie konnte sich so unscheinbar machen, dass sie fast verschwand. Sie durfte hier sitzen. Sie durfte auch telefonieren. Trotzdem wirkte sie wie jemand, der sich versteckt. Die silberne Schnur des Telefons war gerade lang genug, sodass Vivien den Hörer noch bis ans Ohr bekam.
Toms Stimme klang am Telefon anders. Sie löste nicht mehr die guten Gefühle aus wie am Anfang. Vivien stellte sich sein Gesicht vor, während er sprach. Es war kein ehrliches Gesicht. Nicht mehr offen und fröhlich. Vivien fragte sich, ob es an seiner Stimme lag oder an den Medikamenten, die sie heute Morgen bekommen hatte. In ihrem Kopf trudelte alles.
Die Mitesser ließen seine Nase in ihrer Vorstellung rot erblühen. Er sah aus wie jemand, der etwas zu verbergen hatte. Jemand, der eine Ausrede suchte und fürchtete, dass alle Ausreden, die er fand, zu einfach und daher verräterisch waren.
«Klar hab ich den Schlüssel nachmachen lassen. Das ist eine meiner leichtesten Übungen.»
Er versuchte, einen lockeren Eindruck auf sie zu machen. Doch sie war gewohnt, aus dem Klang seiner Stimme mehr herauszuhören, als die Worte verrieten, und sie spürte: Er hatte Angst.
«Und warum holst du
Weitere Kostenlose Bücher