Karma-Attacke (German Edition)
Professor strich sich über die Bartstoppeln. Dann drückte er die Fingerspitzen gegeneinander. So konnte er sich einen Energieschub verpassen, der ihm die volle Konzentration ermöglichte. Er machte diese Übung unbewusst mehrmals am Tag.
«So, vorgeflunkert … Und warum hast du das getan?»
Sie hatte mit dieser Frage gerechnet und antwortete: «Um dir einen Gefallen zu tun.»
Er zuckte innerlich zusammen. Vivien spürte es genau. Sie hatte ihn voll erwischt. «Du hast das also die ganze Zeit erfunden, ja?»
Seine Stimme hörte sich trocken an, als bekäme er bald eine Grippe.
Sie nickte heftig und funkelte ihn an. Für einen Moment spürte sie, wenn es Thara nicht gäbe, würde er sie freilassen. Wenn es ihr gelänge, ihn davon zu überzeugen, würde der einzige Grund wegfallen, warum er sie hier gefangen hielt.
«Es gibt also keinen Hillruc? Wer hat dann deine Mutter umgebracht? Und Ralf Rottmann?»
Sie zuckte demonstrativ mit den Schultern. Professor Ullrich versuchte, sie zu berühren, aber sie wich ihm aus.
«Was willst du, Vivien? Wieder auf die Kirmes? Der Sturm hat sie weggeweht. Es gibt keine Kirmes mehr.»
«Ich will ins Gamma.»
Er schüttelte energisch den Kopf, spielte dann aber den Verständnisvollen.
«In die Disco. Ja. Verstehen kann ich das gut. Aber du bist noch nicht so weit. Schon die Lichtreflexe könnten ausreichen, um dich in eine Situation zurückzukatapultieren, als du in Thara dem Hillruc ausgeliefert warst. Willst du das? Stell dir vor, du flüchtest durch die Disco, weil du denkst, der Hillruc sei hinter dir her, und in Wirklichkeit will nur ein junger Mann mit dir tanzen.»
Wieder wich Vivien der Berührung des Professors aus. Seine Stimme hatte einen verständnisvollen Klang. Einschmeichelnd. Fast schon hypnotisch.
«Glaub mir, Vivien, wenn wir deine Traumata mit den Rückführungen aufgelöst haben, wirst du in die Disco gehen, sooft du möchtest. Ich gehe selbst mit dir hin. Doch erst müssen wir zurück nach Thara. Es gibt dort zu viele unerledigte Dinge.»
Vivien sprang auf, stellte sich auf ihr Bett und schrie: «Ich will mein Leben zurück! Mein Leben im Jetzt! Nicht das auf Thara! Das ist lange vorbei!»
Sie sprang vom Bett und riss die Laken herunter. «Die Bettlaken stinken!», schrie sie. «Die sind seit Wochen nicht gewechselt worden! Ich lieg hier drin und schwitze, und niemand wechselt die Laken! Ich will hier raus!»
Er schüttelte den Kopf. «Deine Laken werden jeden Morgen gewechselt. Das weißt du genau. Du wirst behandelt wie eine Königin! Du hast dich heute Morgen nicht gewaschen. Sieh dich an! Wir behandeln dich besser als du dich selbst.»
Vivien schnaufte. Sie wollte sich nicht einwickeln lassen. Nicht auf diese Tour. Sie kannte diese Wir-wollen-alle-nur-dein-Bestes-Nummer bis zum Erbrechen. Darauf fiel sie nicht mehr herein. «Ich will ins Gamma!»
«Das geht nicht. Du willst diesen Jungen treffen. Den von dem Foto, stimmt’s?»
«Das geht dich gar nichts an!»
«Mich geht alles etwas an, Vivien. Wie soll ich dir sonst helfen, wenn ich nicht …»
Seine Worte zogen ihr die Energie ab. Es kam ihr vor, als würde bei jedem Ausatmen Kraft aus ihr entweichen. Jetzt wehrte sie sich nicht mehr gegen seine Berührung. Sanft ließ sie sich von ihm aufs Bett zurückdrücken.
Er schaute auf die Uhr. «Lass uns beginnen, Vivien. Ich habe nicht ewig Zeit. In der Klinik herrscht ein entsetzliches Drunter und Drüber.»
Sie hielt kurz die Luft an. Der Energieverlust stoppte. Sie ordnete die Worte im Kopf und platzte damit heraus: «Ich hab doch gesagt, ich lass mich nicht mehr zurückführen.»
«Aber Vivien. Du willst doch gesund werden.»
Sie japste nach Sauerstoff. «Ich bin gar nicht krank.»
Er korrigierte sich. «Ja, das stimmt. In gewissem Sinne bist du nicht krank. Du trägst nur alte Wunden mit dir. Aber um heil zu werden, müssen wir uns ansehen, was geschehen ist. Nur so können wir …»
«Ich will dich zurückführen.»
Damit hatte er nicht gerechnet. Er tat so, als hätte er sie nicht verstanden. «Bitte, was?»
«Ich lasse mich von dir nicht mehr zurückführen. Vorher will ich dich einmal zurückführen.»
«Das geht nicht. Du bist die Patientin. Ich der Therapeut. Man kann nicht einfach so Leute zurückführen. Das muss man lernen. Ich …»
Sie lachte. «Ich habe es gelernt, Professor. Seit ich hier bin, führst du mich zurück. Viermal, in manchen Wochen sogar fünfmal. Ich kann das besser als irgendwer sonst. Lass es
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