Karma-Attacke (German Edition)
beide den Kopf. «Nein, das ist sie nicht.»
Wenige Minuten nachdem die Eltern ihren schwer verletzten Jungen ins Krankenhaus gebracht hatten, kam die Meldung bei Ackers an. Ein nacktes Mädchen hatte am Ufer der Ichte einen leicht debilen Neunzehnjährigen schwer misshandelt. Der sonst als friedlich bekannte Junge hatte nur noch zwei Backenzähne im Mund. Die Chirurgen hofften, sein rechtes Auge retten zu können.
«Die ist wie eine abgezogene Handgranate», sagte Ackers und schluckte noch einmal 500 Milligramm Kalzium. Jetzt juckte es auch unter seinen Armen, und da war er garantiert nicht gestochen worden.
33
Kreisende Laserstrahlen, die den Himmel absuchten, wiesen den Weg zum Gamma. Die Diskothek lag abgelegen außerhalb der Stadt. Ein ehemaliger Bauernhof mit großer Scheune und Pferdeställen, umgebaut zu einer Disco. Hier störte der Lärm höchstens den Mäusebussard und die Maulwürfe. Parkplätze gab es auf den umliegenden Wiesen genug. In kaum einem Wald in Deutschland gab es mehr Geschlechtsverkehr als im angrenzenden Ichtenbachtal.
Von dort näherte sich Vivien im Schutz der Bäume. Sie traute niemandem. Sie bewegte sich wie damals auf Thara, so geräuschlos wie möglich. Verschmelzen mit dem Schatten der Bäume, nie einen unbedachten Schritt tun, immer erst mit allen Sinnen die Umwelt wahrnehmen. Lauerte irgendwo eine Gefahr? War dort irgendwo das Aufblitzen in den Augen des Feindes zu sehen?
Sie hörte die Musik und spürte brennende Eifersucht in sich aufsteigen. All das hatte Tom gehabt. Die ganze Zeit. Er und all die anderen jungen Leute. Nur sie nicht. Sie war eingesperrt gewesen im Trakt B der Klinik. Die anderen hatten in die Disco gedurft. Sie war immer nur nach Thara gegangen.
Sie hatte kein Geld, nur den festen Willen, in diese Disco hineinzukommen. Sie wusste nicht genau, was sie sich dort erhoffte. Natürlich, am liebsten hätte sie einen Freund gehabt, hätte geknutscht, getanzt, Cola mit Rum getrunken und vergessen, dass es einen Ort wie Thara gab.
Zwei Autos rasten auf den Waldrand zu. Vivien dachte nicht nach. Sie erlebte, wie sie reagierte, und kam sich vor, als würde sie einer fremden Person zusehen. Gleichzeitig wusste sie: Das war Uta. Sie sprang hoch zu den ersten großen Ästen, schwang sich auf eine Gabelung, glitt durch das Blattwerk höher in die Krone der alten Eiche und hockte nun gut zehn Meter über dem Boden in der Baumkrone. Sie schmiegte ihren Körper an den Stamm, schlang die Beine um ihn wie um einen zärtlichen Liebhaber. Es war, als würden ihre Hände eins werden mit den Ästen. Niemand konnte sie in der Dunkelheit so sehen.
In der Krone des Nachbarstammes raschelte ein Eichhörnchen. Am Wippen der Äste konnte Vivien genau erkennen, wo es war.
Die vier Scheinwerfer hoppelten weiter über den Acker in Viviens Richtung. Die kreischenden Jugendlichen darin fuhren ein Rennen aus. Der Golf durchbrach den Weidezaun, der dreifache Stacheldraht ratschte über den Lack, ein paar Holzpfähle wurden aus der Erde gerissen und flogen durch die Luft hinter dem Golf her, vom Stacheldraht gehalten wie von den dünnen Armen eines Riesenkraken, der versuchte, das Auto zu verschlingen.
Der zweite Wagen stoppte kurz hinter dem ersten. Was für Vivien Furcht erregend aussah, war für die Jugendlichen ein Riesenspaß, der schlimmstenfalls mit dem Donnerwetter eines vollkaskoversicherten Vaters enden würde.
Sie hörte ihnen zu, verstand aber den Sinn ihrer Worte nicht. Ihr Lachen kam Vivien geheuchelt vor. Jetzt standen sie mit Taschenlampen vor dem Golf und versuchten, ihn aus dem Stacheldrahtgewirr zu befreien. Einer fluchte und behauptete ständig, das sei alles nicht lustig, brachte aber seine Freunde damit nur zu immer neuen Lachsalven.
Vivien schaute nicht mehr zu den jungen Leuten herunter. Ihre Blicke wurden von den tanzenden Scheinwerfern des Gamma gefangen. Die Lichtkegel drehten sich in der Luft, ließen Nebelschwaden silbern glitzernd am Himmel erscheinen und verführten einen Raben dazu, sie fortwährend zu attackieren.
Die Leuchtsignale hatten eine hypnotische Wirkung auf Vivien. Ihr Atem passte sich ihrem Rhythmus an. Sie hörte nicht einmal mehr die Musik, die immer lauter aus der Disco drang.
Sie sah die Feuerspiegel, aus denen Lichtlanzen wuchsen, mit denen die Hillruc-Fürsten um die Herrschaft stritten. Toi kämpfte gegen Xu. Zwischen den beiden loderte das Feuer in der Mitte des Kreises. Um sie herum ein Graben, aus dem giftige Dämpfe aufstiegen.
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