Karma-Attacke (German Edition)
vorzuknöpfen. Wust war bereit, ein Monatsgehalt darauf zu wetten, dass Vivien dorthin laufen würde.
Die Mücken hatte Ackers mittlerweile völlig vergessen. Erst jetzt wurde ihm durch das entsetzliche Kratzen und Jucken bewusst, wie sehr sein Hals zerstochen war. «Wir müssen unterwegs an einer Apotheke halten. Ich brauche Kalzium», sagte er und rieb sich die roten Stellen.
«Ja», nickte Professor Ullrich, «Kalzium hilft. Aber Sie sollten sich mal grundsätzlich angucken, woher das kommt.»
«Was?»
«Na, Ihre allergische Reaktion.»
Eigentlich hatte Ackers sich vorgenommen, solche Gespräche nicht in Anwesenheit von anderen zu führen, schon gar nicht, wenn Wust dabei war. Doch jetzt rutschte es ihm heraus: «Wollen Sie damit etwa sagen, meine Allergie sei auf ein früheres Leben zurückzuführen?»
«Aber selbstverständlich.»
«So ein Quatsch.»
Professor Ullrich berührte mit einem Finger den großen roten Fleck am Hals von Ackers und sagte: «Die Mückenstiche lösen eine Erinnerung aus. Die Mücken stechen tief hinein in eine unbearbeitete, längst vergangene Realität. Mit Kalzium können Sie die Symptome bekämpfen. Die Ursachen, mein Lieber, liegen tiefer. Das wissen Sie doch selbst.»
Ullrich verabschiedete sich nicht. Er ließ die anderen einfach stehen und lief leichtfüßig zum Waldrand, wo er sein Auto geparkt hatte. Er wusste genau, wo er Vivien finden würde. Im Gamma. Sie würde da sein, sobald die Dunkelheit anbrach. Sie hatte ja keine Ahnung, dass es in der Disco vor elf nie richtig rundging.
31
Vivien wunderte sich, wie gut und ausdauernd sie schwimmen konnte. Die Strömung wurde schneller. Vivien machte ein Hohlkreuz und ließ sich treiben. Es kam ihr vor, als könnte sie nicht untergehen, als wären ihre Adern mit so viel Sauerstoff gefüllt, dass ihr Körper leichter war als das Wasser.
Sie hörte den fernen Wasserfall und beschloss, noch bis dorthin zu schwimmen. Dann wollte sie an Land. Die nassen Kleider hingen schwer an ihr. Sie empfand die Erschöpfung als Wohltat. Dort, in der Einbuchtung am Ufer, wo das Wasser flacher wurde und das Schilf fast so groß war wie sie selbst, bewegten sich die schnellen Schatten von Wasserläufern über die Oberfläche.
Wenn ich noch einmal wiedergeboren werde, dachte Vivien, möchte ich sein wie sie. Einen Sommer lang unbeschwert über Wasser laufen, durch die Lüfte fliegen können, kein Bewusstsein haben von Sorgen und vom Leid der Menschen. Nur die Sonne auf den Flügeln spüren und das kühle Wasser unter mir.
Vorsichtig, um die feingliedrigen Insekten nicht zu verscheuchen, schwamm sie näher. Dann stand sie ganz still, die Füße zwischen Kies und Schlamm, und schaute den Wasserläufern zu. Sie versuchte sich in das Gefühl hineinzudenken, wie es wäre, so leicht zu sein, dass die Haut des Wassers einen trug.
In dem Augenblick schoss eine kleine Bachforelle nach oben. Sie war nicht größer als Viviens Handfläche. Wie ein silberner Pfeil, der vom Grund abgeschossen worden war, durchtrennte sie die Wasseroberfläche von unten und schnappte sich den Wasserläufer direkt vor Viviens Augen. Ein Beinchen des Wasserläufers trieb wie ein ausgerissenes Haar auf Vivien zu.
Immer, wenn etwas besonders ruhig und friedlich aussieht, dachte Vivien, dann kommt das Böse. Immer dann, wenn man gerade mal nicht aufpasst, wenn man sich eins fühlt mit der Welt und das Glück einen unvorsichtig macht. Das Böse lauert. Die Welt ist nicht anders als Thara.
Die Mittagssonne hatte noch nichts von ihrer Kraft verloren. Vivien zog ihre Kleidung aus und breitete sie zum Trocknen auf den Steinen aus. Dann legte sie sich nackt ins Gras und schaute auf die große Flussbiegung, wo das Wasser gestaut wurde und das Flussbett sich zur dreifachen Größe verbreiterte, um dann im Süden in einem baumhohen Wasserfall nach unten zu stürzen. Das Geräusch des aufschäumenden Wassers gefiel ihr. Die Sonne trocknete ihre Haut. Sie schloss die Augen und genoss es, die Grashalme unter sich zu spüren.
Vivien grub die Finger in die Erde, so wie sie sie oft in ihr Bettlaken gedrückt hatte. Sie saugte die Luft sehr bewusst durch die Nase ein. Es war ein Erlebnis, das sie wieder friedlich stimmte. Unter der Flut von Pollen, Gräsern und Samen konnte sie deutlich den Geschmack von Himbeeren herausfiltern. Eine Spur ihres Duftes mischte sich in den Wind.
Das Schwimmen hatte sie müde gemacht. Sie nickte ein.
Sie hörte die drei Jungs in dem Kanu nicht. Sie ließen
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