Karma-Attacke (German Edition)
Nur einer von ihnen würde diesen Ring lebend verlassen.
Es hatten sich hundert oder mehr Hillrucs versammelt. Ihre prachtvollen Zelte standen oben auf dem Hügel. Überall brannten die Feuer und warfen bizarre Schatten. Die Hillrucs aus den Sümpfen feuerten Xu an, die aus den Bergen hielten eher zu Toi. Die Herrscher der Wälder hatten mit beiden Gruppen ein Bündnis geschlossen. Sie galten als verschlagene Diplomaten. Ihre schärfsten Waffen waren das Wort, die Hinterlist und der Verrat.
Das surrende Geräusch, mit dem die Lichtlanzen durch die Luft schnitten, war nah an Viviens Ohr. Sie klammerte sich so fest um den Eichenstamm, dass die Rinde Geräusche von sich gab.
Vivien verstand nicht, wo sie war. Wie war sie auf dieses Hillruc-Fest gekommen? Nie hatte sie dieses Bild in einer Rückführung gesehen. Wenn Toi sie dorthin gebracht hatte, warum lebte sie dann noch? Der Verstand stellte ihr diese Fragen. Sie riss die Augen auf. Sie sah wieder die Lichter über der Disco kreisen und hielt sich krampfhaft am Baum fest. Sie schloss die Augen noch einmal und war sofort wieder zwischen den Feuern.
Vivien versuchte, sich selbst zurückzuführen, wie Professor Ullrich es sonst getan hatte. Sie sagte sich: «Sieh auf deine Füße. Schau dir deine Hände an. Wer bist du? Wie heißt du?»
Doch auf all diese Fragen bekam sie keine Antwort. Sie sah den Kampf von Toi und Xu wie auf einer Kinoleinwand. Sie wusste, dass sie dabei war. Sie spürte die Hitze der Feuer ganz in ihrer Nähe. Sie roch die giftigen Dämpfe und den Geruch von kochenden Rheanussifrüchten. Aber sie konnte nichts von sich selbst sehen. Sie hatte das Gefühl, nicht Uta zu sein. Uta war klein. Uta sah die Welt aus einer anderen Perspektive. Uta sah die Köpfe der Hillrucs immer von unten. Uta reichte einem Hillruc nicht mal bis zur Brust. Entweder stand Uta jetzt auf einer Erhöhung, oder sie war nicht Uta. Denn sie war genauso groß wie die Hillrucs. Sie schaute ihnen direkt in die Augen.
Sie erschrak nicht vor diesen Augen. Im Gegenteil. In ihnen lag eine merkwürdige Weisheit. Im Leben auf Thara war es ihr jetzt unheimlich heiß. Sie wurde zwischen den Feuern fast gegrillt. Aber hier auf der Erde fröstelte sie. Sie empfand beides gleichzeitig, ihre Existenz auf Thara und das Leben hier. Nie hatte sie stärker gespürt als jetzt, dass sie eigentlich nichts von alldem war, sondern nur ein Lichtwesen, das verschiedene Körper benutzte.
Diese Vorstellung half ihr, die Situation zu ertragen. Langsam löste sie sich vom Eichenstamm und krabbelte nach unten. Je tiefer sie kam, umso dunkler wurde es. Ihre Zehen glitten an der Baumrinde entlang und ertasteten den nächsten Ast. Sie hatte keine Angst, herunterzufallen. Selbst wenn sie ins Leere griff oder der Ast unter ihr zu dünn erschien, um ihr Gewicht zu tragen, fürchtete sie sich nicht. Sie hatte die Gewissheit, nicht abzustürzen, und wenn, dann würde ihr nichts geschehen.
Vielleicht nahm sie auch nur ihren Körper nicht mehr so wichtig. Sie wusste es nicht genau. Sie wurde zu sehr von heftigen Gefühlen überflutet, um genau zu erkennen, was woher kam. Die Dinge stiegen aus ihrem Inneren auf, und sie freute sich über alles, was ihr ein wenig Sicherheit gab. Wenn dieser Körper heute zerstört würde, wäre das für sie nicht das Ende. Sie würde sich eine neue Behausung suchen und weiter am Leben teilnehmen. Hier oder auch woanders. Professor Ullrich hatte ihr das oft gesagt, doch jetzt spürte sie es zum ersten Mal mit jeder Faser ihres Körpers. Jetzt wusste sie, dass es wirklich so war.
Endlich kam Vivien auf dem Boden an. Sie ging in die Hocke. Dann ging sie ein paar Schritte und spürte Tannennadeln unter ihren Fußsohlen. Ihre Schuhe hatte sie irgendwo verloren. Vielleicht am Fluss, als sie mit den Hillrucs gekämpft hatte. Vielleicht schon im Wasser. Aber sie brauchte keine Schuhe, sie liebte den Kontakt zum Boden. Uta brauchte das. Schuhe waren ein Gefängnis für die Füße. Kein Schutz, sondern ein Hindernis.
Vivien trat aus dem Wald heraus auf die Wiese. Das Gras war bereits feucht. Vor nicht allzu langer Zeit mussten hier Kühe gestanden haben. Sie konnte sie noch riechen. Dort, wo der Zaun aus der Erde gerissen worden war und die Reifen besonders tiefe Spuren hinterlassen hatten, fühlte Vivien mit den Zehen über die Grasnarbe. Die Erde kam ihr verletzt vor, und sie hätte sie am liebsten geheilt, doch die Disco lockte.
Vivien war noch nie im Leben in einer Disco gewesen.
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