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Karneval der Alligatoren

Karneval der Alligatoren

Titel: Karneval der Alligatoren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James G. Ballard
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Enge und tötete sie mit einem Ziegel. Mit Zunderholz und einer
Glasscherbe machte er Feuer und röstete die Filets aus dunklem, sehnigem
Fleisch, bis sie gar waren. Die kleinen Steaks schmeckten ihm wunderbar; er
gewann langsam wieder seine alte Kraft zurück. Nach dem Essen kletterte er
wieder in das oberste Stockwerk und zog sich in ein Kämmerchen hinter dem Lift
zurück. Die Tür verbarrikadierte er mit rostigen Geländestangen, dann ließ er
sich in einer Ecke nieder und wartete auf den Abend.
    Im letzten Sonnenlicht paddelte
Kerans sein Floß unter den Farnen am Rand der Lagune entlang. Die kupferroten
und Bronzetöne des Nachmittags gingen in tiefes Violett und Indigo über. Ganz oben
war der Himmel saphirblau und purpurn, phantastische Wirbel korallenfarbener
Wolken zeichneten den Abstiegsweg der Sonne an. Schlaff schlugen ölig-dicke
Wellen ans Ufer. Zum Glück war keiner der Alligatoren, die Strangman um die
Lagune postiert hatte, in Sicht – entweder schliefen sie noch in den Häusern
oder waren auf Futtersuche in den benachbarten Wasserläufen.
    Kerans hielt inne, ehe er über eine
freie Wasserstelle zur Anlegestelle beim Ritz fuhr, und sah sich sorgsam nach
Strangmans Posten um. Die Konzentration auf den Floßbau – aus zwei
galvanisierten Eisenfässern – hatte ihn geistig völlig erschöpft, und er
wartete lange, ehe er aufs offene Wasser hinauspaddelte. Die Anlegestelle war
zerbrochen – als wäre ein Fahrzeug, vermutlich das Flugboot, mutwillig
darangefahren worden. Immerhin wurden die Tonnen noch lose von Tauen
zusammengehalten; ihre gelben Oberseiten sahen aus wie Buckel schlafender
Alligatoren.
    Kerans schob sein Floß zwischen die
anderen Fässer, es schwamm dort unauffällig unter dem übrigen Gerümpel. Dann
zog er sich auf den Balkon hinauf, stieg durch das Fenster ins Hotel ein, ging
rasch die Treppe hinauf und folgte oben den großen, verwischten Fußabdrücken,
die über den blauen Teppich zur Dachwohnung führten.
    Die Wohnung war zerstört worden. Als
er die äußere Holztür öffnete, fiel ihm eine zerbrochene Glasscheibe der
Innenabdichtung entgegen. Drinnen hatte jemand in Berserkerwut alles
kaputtgeschlagen; die Louis-Quinze-Möbel waren zerhackt, Beine und Lehnen
abgerissen und durch die Glaswände gefeuert. Den Bodenbelag hatte man in
Streifen gerissen und sogar den Unterboden zerstört. Überall lagen Bücher
herum, teilweise mitten auseinandergerissen. Auch auf den Kaminsims hatte man
eingeschlagen, riesige Risse klafften in seinem Goldrand; der Spiegel war
übersät mit Splitterstellen, er sah aus wie ein Himmel voller gefrorener
Explosionen.
    Kerans stieg über das Gerümpel zur
Terrasse. Dort hatten die Vandalen das Moskitonetz so weit nach draußen
getrieben, daß er riß. Die Liegestühle, in denen er so viele Monate verbracht
hatte, waren zu Kleinholz gehackt.
    Wie er erwartet hatte, war der
Pseudosafe geöffnet worden, die Tür stand offen, das Fach war leer. Kerans ging
ins Schlafzimmer. Er lächelte, als er entdeckte, daß Strangmans Leute den
wirklichen Safe nicht gefunden hatten – er lag hinter dem Spiegel über dem
Schreibtischchen. Der Kompaß, den er fast absichtlos in der Werkstätte hatte
mitgehen lassen, zeigte immer noch nach Süden – sein Zauberziel –, er lag
zerbeult auf dem Boden vor dem kleinen runden Spiegel, in den man ihn offenbar
hineingeschleudert hatte. Die Spiegelscheibe sah aus wie eine einzige, riesige
Schneeflocke. Kerans drehte vorsichtig den Rokokorahmen um, dahinter kam
unversehrt die Drehscheibe des Safes zum Vorschein.
    Es wurde immer dunkler, Kerans
beeilte sich, schnell noch die Nummern zu drehen. Endlich ließ sich die Tür
öffnen, er holte den 45er Colt und die Schachtel mit Munition heraus, lud das
Magazin und wog die schwere Waffe in der Hand. Die restliche Munition steckte
er in seine Taschen, zog seinen Gürtel fester und ging in die Diele.
    Als er die Szene der Zerstörung
wieder betrachtete, merkte er, daß er eigentlich Strangman wegen dieser Untat
gar nicht übermäßig böse war. Diese Zerstörung und damit auch die aller
Erinnerungen an die Lagune unterstrich nur etwas, das er insgeheim ignoriert
hatte, lange schon, und was ihm spätestens bei Strangmans Ankunft völlig klar
hätte sein müssen: daß es für ihn nur den Weg nach Süden gab. Sein Vegetieren in
der klimageschützten Wohnung mit all ihren Annehmlichkeiten war nichts als ein
Fortführen seines früheren Lebens gewesen, an das er sich geklammert hatte

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