Karneval der Toten
ihrem geblümten Kleidchen mit den Puffärmeln und dem gesmokten Oberteil hinunter.
Jury schüttelte den Kopf. »Nicht umziehen, Pansy. Wir bleiben in den Sachen, die wir anhaben.« Er lächelte. »Wir lesen jetzt eine Geschichte, vielleicht auch zwei, und mehr machen wir nicht.«
Als sie den Buchumschlag sah, hüpfte Rosie auf und ab und löste sich aus Pansys Griff. Fast konnte er Pansys Gedanken lesen. Ein Trick, es ist ein Trick. Es musste ein Trick sein, ein schreckliches neues Spiel, bei dem sich alle auszogen. Gleich würden sie sehen.
Unter einem Fenster, das zur Straße hinausging und einen trostlosen Blick auf die Reihenhäuser auf der anderen Seite bot, stand eine Bank. Jury setzte sich und bedeutete den Mädchen, es ihm nachzutun. Pansy setzte Rosie ans Ende der Bank und platzierte sich zwischen Jury und dem kleinen Mädchen. Es war das einzig Ermutigende, was er in diesem Haus gesehen hatte: die Art, wie Pansy das neue, kleinste Mädchen beschützte. Es hätte leicht auch anders sein können. Nach zwei Jahren hätte Pansy auch leicht zu einer zweiten Samantha geworden sein können.
Jury schlug das Buch auf und zeigte ihnen die erste Illustration. Er las den dazugehörigen Text, überrascht, dass es in der Geschichte um ein verschwundenes Kind ging. Vielleicht könnte Sendak den Fall besser lösen als die Kripo.
»Nächste Seite.« Er wollte, dass die Mädchen die Seiten umblätterten. Pansy begriff nicht ganz. Sie befürchtete, es gehörte zu diesem schrecklichen Spiel oder zu dem, was sich bald als schreckliches Spiel entpuppen würde, als Spiel, dessen Regeln man ihr nicht mitgeteilt hatte.
Rosie kam näher und blätterte um, klappte die Seite so rabiat um, als bliebe ihr keine andere Wahl, als es mit Gewalt zu versuchen. Jury las weiter, während Rosie und schließlich auch Pansy die Seiten ordentlich umblätterten und die Geschichte um das verschwundene Kind aufgedeckt wurde.
Jury hätte nicht sagen können, wer von den Dreien am meisten in Bann geschlagen war. Die meisten Bücher von Maurice Sendak waren ihm bekannt, stehend hatte er sie in einer der großen Londoner Buchhandlungen, bei Waterstone’s oder Dillards oder Hatchards gelesen. Dieser Künstler wusste über Kinder besser Bescheid als jeder Sozialarbeiter, mit dem er sich je unterhalten hatte.
Rosie war richtig aufgeregt und besorgt wegen der Kobolde. Sie mochte sie nicht und wickelte sich unruhig die blonden Haare um den Finger. Das erinnerte ihn an Lulu, nur dass Lulus Haar dunkel war und sich nicht wickeln ließ.
Als er das Buch beinahe durchgelesen hatte, fiel Jury plötzlich auf – vielleicht vom Sturm daran erinnert, der sich auf den Seiten zusammenbraute -, wie kühl es im Raum war. In seinem schaffellgefütterten Mantel hatte er es bisher nicht bemerkt. Beim Blick auf den künstlichen Kamin sah er einen kleinen Elektroofen auf dem Kaminrost stehen, von dessen zwei Brennstäben aber keiner rot leuchtete.
»Ist euch beiden nicht kalt?«
Pansy antwortete: »In dem Haus hier ist mir immer kalt.«
Jury zog seinen Mantel aus und hielt ihn erst Pansy hin, damit sie einen Arm in den rechten Ärmel steckte, dann Rosie, damit sie ihren Arm durch den linken steckte. Jetzt waren sie miteinander verbunden. Rosie kicherte. Sogar Pansy schien sich zu freuen. Sie hielten den Mantel eng um sich geschlungen.
Jury solle die Geschichte zu Ende lesen, sagten sie, und er tat es. Während Rosie stand und Pansy saß, nestelten sie unbeholfen mit dem Mantel herum und schienen es zum ersten Mal richtig warm zu haben.
Die Kobolde brachten ein Baby aus Eis daher, das sie an die Stelle von Idas kleiner Schwester legten. Das Eis begann natürlich zu schmelzen, was Rosie nun überhaupt nicht gefiel. Pansy sagte, sie solle sich keine Sorgen machen, am Ende würde doch alles gut. Und so war es. Ida musste das echte Baby vor den Kobolden retten, was sie auch tat, und schwören, dass sie von nun an immer gut auf das Baby aufpassen würde.
Nachdem Jury aufgehört hatte zu reden, betrachtete Pansy das Buch. Dann überlegte sie eine Weile, während Rosie von einem Fuß auf den anderen hüpfte, als müsste sie dringend aufs Klo. Da er selbst kinderlos war, kannte Jury sich nicht so gut aus, fand es aber ungewöhnlich, dass ein Kind so still sitzen blieb und über ein Problem nachdachte.
Pansy sagte: »Ich weiß, was passiert ist.«
Einen Augenblick wurde ihm schwarz vor den Augen, und er glaubte, sie würde mit einer Lösung für seinen Fall aufwarten
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