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Karneval der Toten

Titel: Karneval der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Grimes
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Kaffee, die er zuvor im Bahnhof weggeschüttet hatte. Als er wieder auf seinem Platz saß, fiel sein Blick auf eine Frau und ihren Jungen auf der anderen Seite des Durchgangs. Die Mutter (Jury nahm jedenfalls an, dass sie es war) war mit heftigem Kaugummikauen und, dem lüsternen Umschlag nach, der Lektüre eines Liebesromans beschäftigt. Hochkonzentriert schob sie mit der Zunge den Kaugummi wie ein Band vor und rollte ihn wieder zurück.
    Der Junge in ihrer Begleitung hätte genauso gut auf dem Mond sein können, so viel Beachtung schenkte sie ihm. Er hatte ein kleines Blechauto dabei, das er auf dem Sitz hin und her rollte und dabei leise Blubbergeräusche ausstieß, die – dachte sich Jury – wohl den langsam in Fahrt kommenden Motor nachahmen sollten.
    Jury lehnte den Kopf zurück. Gleich darauf spürte er, wie ihn ein Augenpaar anstarrte: Es war der Junge gegenüber, der sich bemühte, seine Aufmerksamkeit zu erregen. Ebenso sehr bemühte sich Jury, sich nicht vereinnahmen zu lassen. Er wollte momentan mit einem fremden Kind nichts zu tun haben, gar nichts. Doch der Blick rang Jury buchstäblich nieder. Er sah hinüber.
    Der Junge lächelte. Er war etwa sieben oder acht Jahre alt, mit Stoppelfrisur in der gleichen braunen Farbe wie seine Mutter, aber absolut einzigartigen blauen Augen. Es waren die blausten Augen, die Jury je gesehen hatte, Augen, durch die sich einem der Junge unvergesslich einprägte, selbst wenn alles andere an ihm in Vergessenheit geriet. Er hielt sein kleines Auto fest. Jurys Blick interpretierte er als Einladung und kam über den Gang herüber.
    »Ich hab ein Auto«, sagte er und hielt es zur Begutachtung hoch.
    »Das sehe ich. Welche Marke ist es denn?«
    »Ein Jaguar. Glaub ich.« Er betrachtete das Auto skeptisch, als würde es der Investition nicht gerecht.
    Jury nahm es in die Hand und begutachtete es, als überlegte er auch, um welche Marke es sich handelte. »Es könnte auch ein Porsche sein.«
    Der Junge hatte die Ellbogen auf die Armlehne von Jurys Sitz gestützt und hielt das Kinn in die Hände geschmiegt. »Was für ein Auto haben Sie denn?«
    »Gar keins.«
    Das brachte den Jungen offenbar völlig durcheinander. Ein erwachsener Mensch, der kein Auto besaß? »Aber Sie müssen doch eins haben. Wie kommen Sie denn dann ins Pub?«
    »Man kann doch zu Fuß gehen, oder?«
    Eine absolut lächerliche Vorstellung! Der Junge verzog das Gesicht.
    Jury fragte: »Was für ein Auto fährst du denn, wenn du ein Pub besuchst?«
    »Ich?« Er schlug die Hände vor die Brust. »Ich hab kein Auto und geh auch nicht in Pubs. Ich bin noch nicht alt genug.« Doch es schien ihn zu freuen, zur autofahrenden und trinkenden Bevölkerung gezählt zu werden.
    »Wirklich? Wie alt bist du denn?«
    Der Junge hielt die Hand in die Höhe und spreizte alle fünf Finger, machte sie dann zur Faust und hob drei Finger.
    »Fünf? Das ist aber nett«, sagte Jury.
    Der Junge war stinksauer über diesen Irrtum und den Dummkopf, der nicht zählen konnte. »Acht! Schauen Sie doch.« Nun gingen fünf Finger an der einen Hand in die Höhe und drei an der, die das Auto hielt.
    »Ah! Ich habe mich geirrt. Entschuldige.«
    Sofort wurde ihm vergeben, und der Junge nahm seine vorherige Haltung wieder ein, indem er die Hände auf die Armlehne drückte, um das Gleichgewicht zu halten. »Ich fahre nach London.«
    »Nach London? Dann bist du aber im falschen Zug, mein Freund. Der hier geht nach Swansea.«
    Mit offenem Mundwerk blieb der Junge stocksteif stehen, entsetzt und fassungslos. »Stimmt gar nicht! Der fährt nach London. Aber Sie, Sie sind im falschen Zug!«
    Es war interessant, dass der Junge sich zur Bestätigung des Fahrtziels nicht an seine Mutter wandte. Jury sah zu ihr hinüber. Sie kaute immer noch Kaugummi, drehte eine Haarlocke und las ihr Buch. Wie eine in Stein gemeißelte Figur auf einem Fries. Selbst ihre sich ständig wiederholenden Bewegungen schienen wie erstarrt. Hatte der Junge es schon aufgegeben, sich an seine Mutter zu wenden, wenn ihm etwas unklar war?
    »Das ist meine Mum. Die hat nichts dagegen.«
    Hat nichts wogegen? Dass sie durch die Nacht sausten, und zwar nicht in Richtung London, sondern nach Swansea?
    »Wollen wir wetten?«, sagte Jury, während er nach Kleingeld kramte und eine Pfundmünze aus der Tasche holte. »Wetten, der fährt nach Swansea.«
    »Okay, aber…« Der Junge hatte kein Pfund, das er setzen könnte. Mit einem Blick auf seinen Spielzeug-Jaguar oder -Porsche sagte er:

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