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Karneval der Toten

Titel: Karneval der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Grimes
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Swansea?«, wollte der Junge wissen.
    »Na, normalerweise einen Jahrmarkt. Du weißt schon, mit Karussell, Riesenrad und solchen Sachen.«
    »Gibt’s da auch Boxautos? Die mag ich am liebsten.«
    »O ja. Zwei verschiedene Arten von Boxautos.«
    Seine Augen weiteten sich staunend. »Wow! Gehen Sie da hin?« In enttäuschtem Tonfall fügte er hinzu: »Aber dafür sind Sie wahrscheinlich zu alt.«
    »Für Boxautos ist man nie zu alt.«
    Der Junge nickte. »Ich auch nicht, nicht mal, wenn ich zwanzig bin. Oder dreißig.« Er riss die Augen auf, voller Staunen über diese scheinbar unfassbare Anzahl von Jahren. »Es ist auch nicht so groß wie London. Wenn man sich in London verirren würde, würden sie einen wahrscheinlich nie mehr finden.«
    »Oh, ich würde dich schon finden.«
    Der Junge schien es zu bezweifeln. »Ich glaub, da bleibt man verschwunden. Aber in Swansea wahrscheinlich nicht.«
    »Nein. Dort bestimmt nicht.« Jury schaute auf den Durchgang, wo nun die Gestalt mit der höchsten Autorität von allen auftauchte, derjenige, der den unanfechtbaren Beweis für den Zielort dieses Zuges besaß. Jury befürchtete schon, der Schaffner könnte lauthals die Nachricht verkünden, der nächste Halt wäre London. »Da kommt gerade der Schaffner.«
    Der Junge sah sich blitzschnell um, rutschte dann vom Sitz und trat wieder ans Fenster, um in die Dunkelheit hinauszuschauen. Er redete vom Mond. »Den sollten Sie mal sehen! Der ist riesig.«
    Das Wichtigste war, sich nicht geschlagen zu geben. Dass er gewinnen würde, war so unwahrscheinlich, dass der Junge es gar nicht in Erwägung zog. Jury war schließlich ein Erwachsener und wusste über solche Dinge besser Bescheid. Jurys Alter verlieh ihm Macht, vielleicht sogar so viel, dass er den Verlauf der Schienen umlenken konnte.
    Im Grunde waren sie wie Zauberer. Wichtig war, dass das Kaninchen aus dem Zylinder hüpfte, nicht die Frage, wie es überhaupt dort hineingelangt war. Kinder konnten so etwas besser als Erwachsene: die Bälle in der Luft halten, den Körper in der Schwebe, den Tiger in Schach. Noch durfte die Wahrheit nicht aufgedeckt werden. Der Zug konnte immer noch nach Swansea unterwegs sein.
    Als er seine Fahrt verlangsamte, zogen die Gebäude langsam und deutlich vor dem Fenster vorbei, die Stadthäuser aus unerschütterlichem Backstein und Beton. Es ließ sich nicht länger leugnen, dass sie in London waren. Die Fahrgäste rissen sich von ihren Zeitungen und Zeitschriften los. Die Mutter des Jungen blickte mit verstörtem Stirnrunzeln umher, als wäre ihr Kind hauptsächlich deswegen aus ihrem Blickfeld verschwunden, um ihr das Leben schwer zu machen.
    Der Schaffner rief die Endstation aus, während sie in King’s Cross einfuhren. Der Junge schaute über die Armstütze seines Platzes nach hinten zum Schaffner und wandte sich dann wieder her, sein rotes Auto fest in der Hand.
    Bestimmt fragte er sich, dachte Jury, was noch von der Spannung des Spiels zu retten war. Gut, er hatte ein Pfund gewonnen, aber die Belohnung dafür, dass er Recht behalten hatte, war ihm längst nicht mehr wichtig. Es war London, daran gab es nichts zu deuteln, und seine Mutter nahm seine Gegenwart mit dem genervten Ausruf zur Kenntnis: »Joey! Na komm schon, mein Schatz.« Griesgrämig bemühte sie sich, ihre Siebensachen einzusammeln.
    »Okay«, meinte Joey niedergeschlagen, und der Blick, den er Jury dabei zuwarf, ließ sich nicht anders als flehentlich beschreiben. Das Spiel war vorbei. Sie hätten es weitertreiben können, wenn der Zug nicht hier eingefahren wäre. Er jedenfalls hätte ewig weiterspielen können, solange ein Spiel eben gehen konnte.
    Er blieb im Durchgang stehen, während seine Mutter ihre Habseligkeiten sortierte und einiges davon in eine Reisetasche stopfte. An Jury gerichtet, sagte er ziemlich bekümmert: »Ich glaub, ich hab gewonnen.« Ein wahrer Pyrrhussieg!
    Weil es gar nicht ums Gewinnen ging, behielt Jury die Pfundnote wohlweislich bei sich. »Weißt du was«, sagte er, »ich bin mir gar nicht so sicher, dass du gewonnen hast.« Er zog seinen Dienstausweis hervor, dazu eins von seinen Visitenkärtchen, das er dem Jungen überreichte. »Ich heiße Richard Jury und bin Polizist, Joey.«
    Während Joey ihn ungläubig anstarrte, sagte seine Mutter: »Na, jetzt komm schon. Wir können ja nicht den ganzen Tag hier im Gang rumstehen.« Sie ging in den vorderen Teil des Wagens und ließ Joey wie einen vergessenen Koffer stehen.
    Jury erhob sich nun ebenfalls.

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