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Karneval der Toten

Titel: Karneval der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Grimes
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eleganten schwarzen Herrenmantel, einreihig und mit Samtkragen. So einen Mantel hatte Jury schon lange nicht mehr gesehen, geschweige denn selbst getragen.
    Immer noch zum Thema Declan Scott meinte Viktor Baumann: »Für meinen Geschmack ist der viel zu glatt.«
    Jury lachte. »Genau das hat jemand über Sie gesagt. Der Ausdruck war ›aalglatt‹.«
    Viktor Baumann schien diese Charakterisierung zu gefallen. Allerdings war dieser Mensch dermaßen selbstbezogen, dass sich Jury nicht wunderte. »Es kann sein, dass ich Sie noch einmal sprechen möchte, Mr. Baumann, wenn Sie nichts dagegen haben. Falls diese Sache doch etwas mit Ihrer Tochter zu tun hat, wollen Sie bestimmt über eventuelle Entwicklungen informiert werden.«
    »Unbedingt, Superintendent.«
    Jury gab sich noch eine Spur unterwürfiger. »Meinen Sie, ich könnte mir Ihre Münzensammlung ein bisschen genauer ansehen?«
    Baumann runzelte die Stirn, dann hellte sich seine Miene auf. »Ach, Sie meinen, die da draußen? Selbstverständlich. Ich sag nur Grace kurz Bescheid« – er überlegte – »nein, ich weiß was Besseres...« Er nahm ein Visitenkärtchen aus dem kleinen silbernen Ständer auf seinem Schreibtisch, griff dann nach dem schwarzen Schreibstift im Halter, drehte das Kärtchen um und schrieb eine kurze Notiz darauf. Er reichte es Jury. »Grace ist manchmal ein bisschen tyrannisch. Ich will es ihr lieber nicht lang und breit erklären. Sagen Sie ihr einfach, was Sie wollen und geben Sie ihr das hier. Sonst überlegt sie sich zehn Minuten lang irgendwelche Gründe, wieso sie Ihnen die Vitrine nicht aufschließen kann.« Baumann öffnete die Tür. »Also, dann auf Wiedersehen, Superintendent. Grace wird sich darum kümmern.« Er nickte ihm grüßend zu und ging hinaus.
    Grace ließ wieder fragend die Augenbrauen nach oben tanzen.
    Jury reichte ihr das Kärtchen. »Ich wollte mir nur ein paar von den Münzen genauer ansehen.«
    Der Anweisung auf dem Kärtchen folgend, sie solle seinen Wünschen entsprechen, kniff sie den Mund zusammen, holte ein paar Schlüssel aus einer Schublade, stand auf und trat an die Vitrinentüren, um aufzuschließen. Sie gab ihm das Kärtchen zurück, als interessierte Jurys Neugier sie nicht weiter.
    Jury seinerseits interessierten weder sie noch die Münzen. Er hatte sich lediglich auf freundlicher Basis von Baumann verabschieden wollen. Sie blieb dicht neben ihm stehen, während er die Münzen betrachtete.
    »Ich an Ihrer Stelle würde sie nicht in die Hand nehmen«, sagte Grace. »Mr. Baumann ist in Bezug auf seine Münzen äußerst empfindlich. Sie sind ziemlich wertvoll.«
    In Anbetracht der Tatsache, dass das Kärtchen sie angewiesen hatte, ihm jegliche Unterstützung zu gewähren, spielte Jury mit dem Gedanken, es darauf ankommen zu lassen, kam dann aber zu dem Schluss, dass es bloß Zeitverschwendung wäre. »Danke«, sagte er und trat beiseite.
    Mit wichtigtuerischer Miene schloss sie die Türen wieder zu. Dann lächelte die Hüterin der Münzen etwas verkniffen und brachte Jury zur Tür.

6
    Für die Anonymität von Zugreisen hatte Jury schon immer etwas übrig gehabt. Da in seinem Wagen nur wenig andere Passagiere waren, saß er eine Weile einfach da und genoss das Gefühl der Leere eines Reiseerlebnisses mit der Great Western Railway.
    Er hatte sich das Buch von Emily Dickinson mitgenommen und überlegte, während er die Gedichte las, wie es wohl sein musste, über ihre Art von Wahrnehmung zu verfügen. Es musste zutiefst schmerzhaft sein, ein Gefühl, als ob man sich die Zähne an Glas ausbiss. Aber man war wenigstens hellwach. Zu oft hatte er in den letzten Wochen das Gefühl gehabt, wie ein Schlafwandler durchs Leben zu taumeln.
    Als der Zug in Pewsey anhielt, stieg eine erschöpft aussehende Frau mit drei kleinen Kindern zu, die sie auf dem Vierersitzplatz mit Tisch unterbrachte. Der jüngste der drei Kleinen heftete seine riesigen Augen auf Jury, der ihm gegenüber auf der anderen Seite des Durchgangs saß.
    Jury schloss die Augen, nachdem er die Stelle im Buch mit seinem Plastikteelöffelchen markiert hatte. Er hoffte, das starrende Kind dadurch abwimmeln zu können, und lehnte den Kopf ans Fenster. Er war müde und wollte seine Ruhe haben. So blieb er, den Kopf an die Scheibe gelehnt, eine Weile sitzen, bis ihm diese Haltung zu unbequem wurde und er sich aufrichtete, um weiterzulesen.
    In körperlicher Hinsicht hatte er sich von den Schussverletzungen gut erholt. Immerhin war es inzwischen zwei Monate

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