Karneval der Toten
quer durch den Raum einer ganzen Serie von Beinaheunfällen auswich, wandte sich dann an Cody und sagte: »Wie war Flora eigentlich? War sie ein aufgewecktes Kind? War sie süß?«
Codys klare Augen trübten sich wie aufgewühltes Wasser, eine Unruhe unter der Oberfläche. »Ja, aufgeweckt war sie schon.« Er lächelte. »Aber süß würde ich sie nicht nennen. Sie war ganz schön dickköpfig.«
»Sie war vier Jahre alt. Da gehört ›dickköpfig‹ ja zum Programm.«
Die Kellnerin stellte ihm seinen Teller Bohnen auf Toast mit einer schwungvollen Geste hin. »Ta- dah !«. Offensichtlich hatte sie die Geistesabwesende gegen die Entertainerin eingetauscht. Cody bedankte sich, und sie ging, diesmal viel sichereren Schrittes, wie ein Seemann, der den Trick endlich heraushatte.
Jury sah zu, wie Cody die Bohnen in sich hineinschaufelte. Der hatte also auch seine kleinen Schwächen. »Sie rauchen nicht. Trinken Sie?«
»Nein, damit habe ich auch aufgehört.« Cody schob seine Brille nach oben, beugte sich zu Jury herüber und flüsterte mit gewichtiger Miene: »Ich bin nämlich Alkoholiker. Glauben Sie mir, es ist die Hölle, es ist einfach die Hölle. Kein Tag vergeht, an dem ich mich nicht danach sehne. Die reine Hölle.«
Jurys Mundwinkel wollten sich schon verstohlen nach oben bewegen, doch er zog sie herunter.
Insgeheim musste er schmunzeln. Cody war also auch kein Engel.
9
Obwohl Jury Detective Sergeant Platt recht gern hatte, wollte er ihn genauso wenig bei seinem Besuch in Angel Gate dabei haben wie zuvor im Park von Heligan. Er war auf der Suche nach Stille. Er wollte alles in sich aufnehmen, denn auch ohne den Fundort der Leiche je gesehen zu haben, wusste er, dass Angel Gate irgendeinen Schlüssel zur Lösung des Falls bereithalten würde. Dies entsprang nicht etwa seiner Intuition und war auch sicherlich keine brillante Schlussfolgerung. Es lag ganz einfach auf der Hand: Die Frau war entweder absichtlich an diesem Ort umgebracht worden und jemand hatte damit etwas »klarstellen« wollen (wovon viel zu oft ausgegangen wird!) oder der Mörder hatte ganz einfach keine andere Wahl gehabt, als es hier zu tun. Das heißt, er hatte sich sowieso im Haus oder im Garten aufgehalten.
Cody hatte nichts dagegen, dass sich Jury allein umsehen wollte. »Ich muss sowieso noch ein paar Sachen erledigen. Dort drüben« – er deutete auf den weißen Wohnwagen in der Ferne – »ist unser Tatortbüro. Wir hätten es auch im Haus einrichten können, aber das wollte der Chef nicht.« Er wandte sich an Jury. »Und ich soll Ihnen in jeder Weise behilflich sein, meinte er.«
»Das waren Sie bisher auch, und ich werde es ihm sagen.« Jury überlegte kurz. »Sie wissen ja, wie er immer ist mit dem Tatort – dem darf ja keiner zu nahe kommen!«
»O ja, wie er ist, weiß jeder .« Cody lächelte.
Jury ebenfalls. »Ich bin schlimmer!«
Das stimmte zwar überhaupt nicht, diente jedoch als ausreichende Begründung für Jurys Wunsch, allein durch den Garten zu gehen, und verschaffte Platt das erleichterte Gefühl, sich keinem Ausdauertest à la Macalvie aussetzen zu müssen.
Cody hatte ihn bis hinter das Haus begleitet. Auf dem Anwesen seien schon so viele Polizeibeamte herumgelaufen, sagte er Jury, dass man Declan Scotts Erlaubnis kaum mehr einholen müsse. Der fände bestimmt nichts dabei, wenn sich noch ein weiterer Polizist umschaue. Dann ging Cody durch ein Törchen in der Gartenmauer davon, dessen schwarzes Gitterwerk die Form eines Engels hatte. Jury sah ihn wie durch einen Zaubertrick verschwinden und musste unwillkürlich an Alice im Wunderland denken. Der Garten und Codys plötzliches Verschwinden, als sei er durch das Törchen gefallen. Dieses Thema ging ihm nicht aus dem Kopf, und dabei fragte er sich, welches imaginäre Element hier verborgen war, welche Kindheitsgeschichte.
Die Gartenmauer war wie das Haus auch aus blassrotem Backstein und von breiten Rabatten gesäumt. Ein Großteil des Grundstücks wurde gerade umgestaltet, was an den aufgerissenen Stellen und anderen, bereits frisch angepflanzten Abschnitten zu erkennen war. Zwar nicht mit Heligan zu vergleichen, aber auch ein großes Bauvorhaben. Es sah aus, als hätte hier ein Landschaftsarchitekt oder Gartendesigner die Federführung übernommen, denn der Garten war in Quadrate und Dreiecke aufgeteilt, durch Steinplattenwege gegliedert und gelegentlich mit Skulpturen bestückt. In der Mitte des Gartens befand sich ein Springbrunnen mit einer Bronzeplastik
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