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Karneval der Toten

Titel: Karneval der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Grimes
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Newcastle zu werfen. Die fast völlig in Glas gehaltene, aus der Westwand des Baltic Center ragende Einfassung bot einen Panoramablick über Newcastle, den Tyne und Gateshead. Allmählich wurde es dunkel, und auf der anderen Seite des Tyne waren schon die Lichter angegangen. Jury war ziemlich überwältigt vom Anblick der Skyline von Newcastle. Sensationell, besser als jeder Blick von Southwark über die Themse, mit den bunten Lichtern des National Theatre Komplexes, der Towerbrücke und der Docks und Quais. Wie die meisten Menschen hatte er Newcastle immer als schmuddlige, heruntergekommene, von Arbeitslosigkeit geschlagene Stadt gesehen – beileibe kein Ort von hohem touristischem Interesse. Von hier oben aus zeigte sie sich jedoch ganz anders, und ihm war um Brendan schon viel wohler. Wenigstens lebte der nicht in einer erbarmungslos langweiligen Umgebung.
    Er musste los – er musste auf seinen Zug.
    Nicht weit vom Ausgang befand sich ein Buchladen. Er ging hinein und schaute einen Kasten mit Drucken durch, um sich vielleicht etwas zu kaufen. Dabei entdeckte er einen, der in der Sammlung des Baltic sicherlich nicht zu finden war. Darauf war im Karikaturstil eine Familie um einen gedeckten Esstisch abgebildet. Ihre Augen waren so dunkel, dass sie wie hinter Masken verborgen schienen. Der Esstisch war mit hohem Gras gedeckt, vermutlich ein Sumpf oder Moor, im Hintergrund Wasser. Auf den Tellern oder in den Händen hatten sie Schmetterlinge. Das Bild trug den Titel Die Schmetterlingsesser . Er dachte ein Weilchen über dieses surreale Bild nach und fragte sich, ob sie sich von Illusion oder Zweideutigkeit ernährten. Dann steckte er den Druck wieder in den Kasten zurück.
    Vom Baltic Center aus machte er sich auf seinen viertelstündigen Marsch in Richtung Hauptbahnhof. Der Fahrer hatte Recht: der Weg war gut ausgeschildert, eine Reihe von Hinweistafeln dirigierte ihn zum Bahnhof. Man hätte gar nicht falsch abbiegen oder sich verirren können.
    Jury blieb stehen und sah für einen kurzen Moment vor seinem geistigen Auge die Reihe alter Erlen vor Angel Gate. Und die weißen Kreuzchen.
     
    An einem Bahnhofskiosk kaufte er sich einen Kaffee und ein trockenes Wurstbrötchen. Bei dem Empfang vorhin hatte er nichts essen können. Sein Zug nach King’s Cross sollte um zehn nach sechs gehen. Er las eine Lokalzeitung und warf sie gleich wieder weg, er wollte über den krisengeschüttelten Norden nichts mehr lesen.
    Er setzte sich auf eine Bank, und nach ein paar – bitter und metallisch schmeckenden – Schlucken Kaffee befestigte er den Deckel wieder auf dem Becher, den er zusammen mit dem Rest des Wurstbrötchens in einen Abfalleimer warf. Dann ging er den Bahnsteig entlang. Er war schon mehrmals in diesem Bahnhof gewesen und fand ihn ziemlich deprimierend. Aber traf das nicht auf die meisten Bahnhöfe zu, sogar für so belebte und geschäftige wie King’s Cross oder Victoria Station? Es waren Orte zum Abschiednehmen, selten sah er Leute, die einander begrüßten, und fragte sich warum.
    Er kehrte zu seiner Bank zurück und beobachtete einen etwas unscheinbaren Hund ohne Halsband, der herumstreunte und am Abfalleimer schnüffelte. Jury überlegte, ob er wohl das Wurstbrötchen roch, das dort noch obenauf lag. Er griff hinein, holte es heraus und nahm die Wurst vom Brot (obwohl – wer sagte denn, dass der Hund kein Brot mochte?). Jury zerteilte die Wurst in Stückchen und stellte sie dem Hund auf dem Pappteller hin. Der hatte sie in null Komma nichts vertilgt. Na, sagte er zu dem Hund, oder mehr oder weniger an ihn gewandt, Das reicht dir nicht, was? Er ging wieder zum Kiosk und kaufte noch ein Wurstbrötchen, brach es in Stücke und legte sie ihm hin. Wieder verschlang der Hund gierig die Brocken.
    Jury seufzte, fuhr dem Hund mit der Hand über den knochigen Rücken und fragte ihn. »Können wir denn jemals satt werden, wir alle miteinander?« Er verspürte nämlich eine immense Leere, verstärkt von dem höhlenartigen Bahnhofsgebäude, dem Hund, den endlosen Gleisen.
    Sein Zug fuhr ein. Er wünschte dem Hund alles Gute, ging den fast menschenleeren Bahnsteig entlang und stieg ein. Dabei fühlte er sich wie einer, der nichts hatte, für niemanden – wie einer, der nie Neuigkeiten brachte.

DER KINDERDIEB

16
    Melrose stieg aus seinem Mietwagen – er war zu dem Schluss gekommen, dass der Bentley zu angeberisch wirkte – und blieb auf dem Kiesweg stehen, um Angel Gate in aller Ruhe zu betrachten. Es war ein

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