Karneval der Toten
wohnen und gibt ihnen sogar ein eigenes Zimmer. Aber reden tut er nicht mit ihnen, und wenn sie was zu ihm sagen« – sie sah Jury wieder an – »dann antwortet er nicht.«
Inzwischen war ihr Rock fester zusammengedreht als Roys Seilstück. »Und sie muss ihr ganzes Leben so weiterleben und kann nie mit jemand reden. Nie.«
Jury fiel auf, dass sie vom Plural in den Singular gewechselt hatte. Das war die Schweigebehandlung, die sie ertragen müsste, falls der Kinderdieb sie erwischte.
Sie hatte Schuldgefühle, da war Jury sich sicher, aber weshalb? Hatte sie Flora bei Mary Scotts Besuchen in Little Comfort etwas getan? Hatte sie jemandem von den Besuchen der beiden in Heligan erzählt?
»Mochtest du Flora gut leiden?«
»Irgendwie schon. Ein bisschen.« Die Beine ausgestreckt, rutschte sie auf der Bank weiter nach unten.
Jury wartete ab.
»Es gab Zeiten, da konnte ich sie nicht ausstehen.«
»Ihn kann ich manchmal auch nicht ausstehen.« Jury deutete mit einem Kopfnicken zu dem Fußweg hinüber, auf dem Melrose Plant näher kam.
Lulu kicherte: ein echtes, entzücktes Kindergekicher. Ihre Augen funkelten, sie hielt sich die Hand über den Mund. »Aber der ist doch Ihr Freund.« Ein ganz allgemeiner Test, wie weit es mit der Freundschaft her war.
»Na und? Können Freunde sich denn immer gut leiden?«
Sie schüttelte heftig den Kopf, und ihr glattes Haar schwang hin und her. Jury fragte sich, wieso ihre Tante nichts unternahm, damit es ihr Gesicht etwas vorteilhafter zur Geltung brachte.
Melrose stand da und schaute die beiden an. »Ihr sitzt hier einfach untätig herum, während ich Beete umgrabe und jäte – und so weiter.«
»Haben Sie gar nicht. Sie haben sich mit der jungen Macmillan unterhalten«, entgegnete Jury.
»Lulu!«, ertönte Rebecca Owens Stimme von der Küchentür herüber. Sie bedeutete Lulu hereinzukommen.
Lulu war alles andere als begeistert. »Jetzt soll ich zum Mittagessen rein.« Widerwillig stand sie auf und verabschiedete sich.
Während er sie wegrennen sah, meinte Melrose: »Wo hat die bloß ihre Energie her?«
»Von mir jedenfalls nicht.« Jury patschte auf die Bank und stand auf. »Also, ich fahre jetzt nach London. Ich muss noch einmal mit Viktor Baumann reden. Der hat seine Finger ja in so manchem Mustopf, glaube ich.«
»Und ich kann meine kaum in einem behalten. Hätten wir uns eigentlich keine bessere Ausrede für meine Anwesenheit hier ausdenken können als die, ich sei Experte für Rasenplaggen?«
»Schon möglich. Es war einfach das Erste, was mir einfiel.«
Melrose warf ihm einen skeptischen Blick zu. »Richard, das ist nicht das Erste, was einem einfällt.«
»Wenn man an Sie denkt, schon.«
24
Alice Miers saß im Wohnzimmer ihres schönen Hauses in Belgravia, blickte angestrengt, ja mit zusammengekniffenen Augen, durch ihre schmale Lesebrille auf das Foto und reichte es Richard Jury dann unter Kopfschütteln zurück. »Ich weiß nicht, Superintendent. Meines Wissens habe ich sie noch nie gesehen.«
Jury nahm das Foto wieder an sich. Er hatte sich immer gefragt, was dieses einschränkende »meines Wissens« eigentlich bedeutete. Für ihn klang darin ein gewisses Zögern an, als ob die befragte Person das Gefühl hatte, irgendetwas von außen Vermittelndes, ein etwas breiter gefasstes »Wissen« würde es erklären.
»Sind Sie sicher?«
»Nein. Aber nur, weil ich mir bei nichts absolut sicher bin.« Sie lächelte.
Jury erwiderte ihr Lächeln, nur dass seines nicht so schwach und matt war.
»Sie hat etwas mit meiner Tochter zu tun?«
»So scheint es.«
»Und Declan kann sich nicht denken, wer sie ist?«
»Nein. Vielleicht ist sie Teil der Vergangenheit.«
»Das leuchtet ein.« Sie musterte ihn erwartungsvoll, das Kinn in die Hand geschmiegt.
Wieder lächelte er. Dass sie sich auf seine Kosten amüsierte, war ihm ziemlich egal. Er berichtete ihr, was die Polizei bisher über die Tote in Erfahrung gebracht hatte.
Alice Miers lehnte sich zurück. »Ungewöhnlich ist es nicht, dass Mary einer alten Bekannten begegnet sein könnte, aber dass sie Declan angelogen hätte, ist ungewöhnlich. Roedean. So eine idiotische Lüge! Ist doch ganz leicht nachzuprüfen, wie Sie ja bereits wissen.«
»Wieso hätte Ihre Tochter denn annehmen sollen, dass es jemand nachprüfen würde? Doch bestimmt nicht ihr Gatte, ein Mensch mit großem Respekt vor der Privatsphäre anderer. Und eine polizeiliche Ermittlung hätte sie ja auch nicht vorausahnen können. Dann leuchtet
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