Karneval der Toten
besorgt, als wäre sie nur um Sekunden einer Katastrophe entgangen, als hätte der Wagen den Baum in eben dem Moment gerammt, als sie noch den Kopf abgewandt hatte. Die ganze Szene hatte etwas Beängstigendes, es war fast, als dächte sie, wenn sie dort gewesen wäre, sich nicht abgewandt hätte, dann wäre ihre Mutter vielleicht noch am Leben.
Er betrachtete ihr blasses Gesicht. Welch schreckliche Gedanken mochten diesem Kind wohl im Kopf herumgehen? Wenn man nicht richtig auf jemanden aufpasst (auf Vater oder Mutter), dann verschwindet er oder sie vielleicht? Es war aber noch mehr: Womöglich hatte man selbst Schuld daran, weil man weggeschaut hatte. Er spürte eine Hand auf seinem Arm.
Lulu sagte: »Was ist denn? An was denken Sie? Haben Sie sie gekannt?«
»Die Frau, die erschossen wurde? Nein.«
»Ich dachte, vielleicht – aber das ist ja dumm. Wenn Sie sie kennen würden, wüsste die Polizei ja, wer sie ist. Außer, Sie kannten sie nicht richtig und es war vielleicht eine Frau, die nur aussah wie...«
Jury lauschte ihrer verworrenen Geschichte, die sich wie die kindlich konfuse Version von dem anhörte, was Macalvie gesagt hatte. Als Roy herüberkam und sich gemächlich vor ihr niederließ, kam sie endlich zum Schluss. Jury sagte: »Ich musste gerade an meine Mutter denken.« Er sah, dass sie plötzlich aufhörte, den Hund zu tätscheln, und reglos verharrte. »Sie ist gestorben, als ich zwei oder drei war oder vielleicht sechs, ich bin mir nicht mehr ganz sicher. Sie wurde von einer Bombe getötet, die vor unserem Haus in London einschlug. Im Krieg schickte man uns Kinder aufs Land, weil London so gefährlich war. Ich war also gar nicht dabei, als es passierte.« Er hatte jedenfalls immer geglaubt, dass es so gewesen war.
Sie verharrten reglos.
»Sie haben nicht richtig aufgepasst.«
Er schüttelte den Kopf. Warum war Kindern die Last des magischen Denkens aufgebürdet? Selbst jetzt konnte er es spüren.
»Aber diese Bombe hätten Sie so oder so nicht verhindern können«, fügte sie hinzu.
»Nein, stimmt. Aber manchmal denken Kinder doch, wenn sie bloß ganz fest an etwas glauben, dann wird es geschehen. Na ja, inzwischen wissen wir ja, dass das nicht stimmt. Wenn man ein Kind ist, bringt man so etwas im Kopf allerdings durcheinander.«
»Ich weiß. Zum Beispiel, dass man auf jemand nicht richtig aufpasst.«
»Stimmt.« Jury überlegte einen Augenblick. »Ich hatte mal einen Freund namens Jimmy Poole, und der hatte Gänse gestohlen. Bei Gans Nummer drei haben sie Jimmy Poole dann geschnappt.« Jury lächelte. Die Vorstellung gefiel ihm.
Ihr nicht. »Eine Gans stehlen kann jeder. Die sind nicht so schlau wie Hunde und Katzen. Ich kapier bloß nicht ganz, was jemand an so einer Gans findet.« Es blieb einen Moment still, während sie über ihr Problem nachdachte. »Na, es ist jedenfalls lange nicht so schlimm wie Kinder stehlen.«
»Kinder? Nein, natürlich nicht, ich kenne aber keinen, der so einfach mir nichts dir nichts Kinder stehlen würde.«
»Ich schon.« Leise sprach sie weiter. »Der, der Flora mitgenommen hat. Das ist der Kinderdieb.« Sie wandte langsam den Kopf, um Jury in die Augen zu schauen. »Der holt bloß Kinder.«
Jury runzelte die Stirn. »Hast du denn Angst, er könnte dich auch holen?«
Sie sah Roy an und streckte die Hand hinunter, um ihn zu streicheln. Und so ihr Gesicht verbergen zu können. »Ich weiß nicht. Ich glaube, der holt sich nur hübsche.«
Jury schloss die Augen: wie traurig, sich so etwas einzureden! Als er sie wieder öffnete, schaute sie ihm direkt ins Gesicht. Sie rückte ihre Brille zurecht und strich sich die Ponyfransen aus den Augen. Er sollte sich selbst ein Bild davon machen, ob sie womöglich in Gefahr schwebte.
Viel Auswahl blieb ihm nicht: ist man hübsch, wird man gestohlen; ist man nicht hübsch... nun, wo bleibt da der Trost? Er überlegte. »Wenn du immer die Brille aufbehältst und die Augen hinter dem Pony versteckst, bist du vermutlich sicher.«
Als ihr die Bedeutung des Gesagten klar wurde, nickte sie. Sie lächelte sogar ein wenig.
»Aber dieser Kinderdieb«, fragte Jury. »Was macht der denn mit den Kindern, die er stiehlt?«
»Er nimmt sie mit nach Hause... und sperrt sie entweder im Keller ein, wo die Ratten sind, oder er schubst sie auf den Dachboden, wo es immer dunkel ist, oder manchmal kettet er sie auch hinten im Garten an einen Pfosten, und sie müssen im Schnee stehen.« Sie hielt inne. »Oder er lässt sie im Haus
Weitere Kostenlose Bücher