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Karneval der Toten

Titel: Karneval der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Grimes
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es stimmte – er und Dench waren über diese Knochen völlig verschiedener Meinung gewesen, und Macalvie hatte Recht behalten.
    Dench ging zu seinem Computer hinüber. »Geben Sie mir mal die Mappe.«
    Macalvie tat es.
    »Und jetzt sehen Sie her.« Dench legte die Aufnahme von Lena Banks unter eine Videokamera, die das Bild digitalisierte und auf einen Computerbildschirm übertrug. Dann nahm er eines der Polizeifotos von der Frau, die erschossen worden war, aus der Mappe und übertrug es ebenfalls auf den Bildschirm, löschte die rechte Gesichtshälfte und die linke Seite von Lena Banks’ Gesicht, und nachdem er fokussiert hatte, um die Aufnahme zu vergrößern, verschob er die eine Gesichtshälfte neben die andere.
    »Na, bitte! Dieselbe Frau. Es kommt aber noch besser -« Der Computer generierte ein Bild von Lena Banks auf der anderen Hälfte des Bildes, indem er ihre schlecht geschnittene, langweilige Frisur durch eine üppige Haarmähne ersetzte. »Ich fand es schon immer erstaunlich, wie drastisch so nebensächliche Dinge wie Haarfrisur und Make-up ein Gesicht verändern können. Aber die Knochen, die Wangenknochen der beiden, der Unterkiefer – ich hätte es sofort sehen sollen. Schauen Sie sich doch diese Wangenknochen an. Ich habe wohl schon zu lange alte Schädel angeglotzt. Was bringt das jetzt für Sie?«
    »Weiter bringt es uns hoffentlich. Und zurück zu Viktor Baumann.«
    »Wer ist das?« Dench hatte den Blick schon wieder auf die Bilder auf dem Computermonitor gerichtet.
    »Na, zum einen war er ihr Liebhaber. Er war Mary Scotts erster Ehemann, und es sieht ganz danach aus, als ob sich nun etwas geändert hätte.«
    Inzwischen ließ Dench die Aufnahme unter ein Sichtgerät gleiten, nicht sonderlich interessiert am Kontext dieser Bilder.
    Während Denny Dench mit seinem Computer herumspielte, ging Jury im Labor umher. Die beiden Fotos, die sie momentan interessierten, fand Dench wahrscheinlich ziemlich langweilig, trotz der feinen Wangenknochen.
    Er ging noch einmal zu dem Kinderskelett von der Baustelle in Sidmouth hinüber. Als er auf die zartgliedrigen Knochen des Jungen hinuntersah, spürte er plötzlich, wie ihn eine Welle von Traurigkeit überströmte, und er fragte sich, wie alt der Junge wohl gewesen war. Zehn? Zwölf? Das Skelett wirkte so klein und dünn und unwirklich, dass man sich fragte, wie es einen Jungen stützen konnte, der Fahrrad fuhr und Fußball spielte. Jury versuchte, die Welt mit dem Blick dieses jungen Burschen zu sehen: Wie es war, unter Versprechungen von etwas Süßem, Neuem, Glänzendem vom Gehweg oder vom Spielplatz weggelockt worden zu sein, bis einem dann langsam dämmerte, dass man vielleicht nie wieder zurückkehrte, dass man seine Eltern und sein Zuhause womöglich nie wiedersah. Wie lange konnte sich ein Kind an die Hoffnung klammern? Eben steht man noch im Garten und wird im nächsten Moment schon in ein Auto oder ins Gebüsch oder in einen Durchgang gezerrt, die Schreie erstickt vom groben Zugriff eines wildfremden Menschen. Und im nächsten Moment? Eine Pistole, ein Messer, eine schmutzige Matratze auf einem harten Betonboden?
    Denn selbst wenn dieser Junge am Leben geblieben wäre, wenn die Polizei oder sonst jemand ihn gefunden und gesund und wohlbehalten wieder nach Hause gebracht hätte – er würde nie wieder ganz dazugehören. Nein, jemand entführt ein Kind, und etwas von dem Kind bleibt zurück. Wie sollte es anders sein?
    Das Kind wäre auf ewig mit dem Teufel verbunden, der ihm das angetan hatte.
    Reglos starrte Jury auf das Skelett hinunter. »Der Kinderdieb.«
    »Was?«, fragte Denny Dench.
    »Nichts.«

31
    Es war spät, schon fast elf, als Macalvie beim White Hart Hotel vorfuhr. »Ein Glas kriegen wir noch, bevor der Zapfhahn zugedreht wird.«
    Um die Sperrstunde schien in den Pubs noch mehr los zu sein als sonst. Jedenfalls ging es dann immer lauter und hektischer zu. Das Londoner Gesetz der durchgehenden Öffnungszeiten hatte sich offenbar noch nicht in allen Provinzpubs durchgesetzt. Im White Hart galt der Schankschluss jedenfalls immer noch.
    Eine Weile tranken Jury und Macalvie schweigend. Jury drehte sich mit seinem Pint in der Hand auf dem Barhocker um und ließ den Blick durch den Raum schweifen. Er mochte es, wenn in den Pubs ganz normales altes Zeug, etwa Kunstdrucke von Jagdszenen mit etwas schrilleren Neuerungen wie Musikautomaten kombiniert wurde. Dabei erinnerte er sich an die Szene in einem Pub in Dartmoor, als Macalvie so einem

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