Karneval der Toten
Ding einmal einen massiven Fußtritt versetzt hatte, weil er den alten Song nicht ertragen konnte, den es spielte. Ein Gefühl von Verlust. Von Verlust und Schuldgefühlen. »Plant hat es mir gesagt«, sagte Jury plötzlich unvermittelt, obwohl er damit eigentlich gar nicht hatte anfangen wollen. »Dass Ihnen in Schottland mal was passiert ist. Er sagte aber nicht, was.«
Macalvie nickte. »Stimmt.«
Jury sah einem Mann zu, der die Jukebox mit Kleingeld fütterte.
Macalvie schob sein Bier auf dem Tresen herum und machte nasse Kreise. »Das war in Kircudbright. Sie wissen schon, das ist diese Ortschaft in Dumfriesshire, die bei Künstlern so beliebt ist. Ich lebte damals mit einer Frau zusammen, die eine sechsjährige Tochter hatte. Man hat die Kleine direkt aus ihrem Bett gezerrt, aus unserem Haus. Zur Vergeltung für das, was bei einer Drogenrazzia in Glasgow passiert war, wo die zwölfjährige Tochter des Übeltäters bei einem Schusswechsel ums Leben kam. Ich hatte sie nicht erschossen, den Einsatz damals aber geleitet. Mit dem Vater war ich vorher schon mehrmals aneinander geraten, der gab also mir die Schuld. Ich erhielt die Anweisung, zu einem alten Haus im Fleet Valley zu fahren, was ich auch tat. Dort fand ich Cassie, sie saß an einem Tisch, eine Müslischale und einen Teller mit Toast vor sich. Man hatte sie in den Kopf geschossen. Ihr Körper war noch warm, es konnte demnach nicht mehr als fünf oder zehn Minuten vor meiner Ankunft passiert sein. Die Milch war nämlich immer noch kalt.« Er hielt inne. »Wie wird man mit so was fertig?«
»So wie Sie damit fertig werden. So wie Sie die damals geschnappt haben, die die beiden armen Kleinen bei Lamorna umgebracht hatte. So wie Sie auch den Mistkerl noch schnappen werden, der Flora verschleppt hat...«
»Den habe ich ja noch nicht.«
»Das kommt schon noch. So werden Sie damit fertig. Eine andere Möglichkeit sehe ich nicht.«
Wieder Schweigen. Dann sagte Macalvie: »Es geht doch um die Kleinen. Was mit denen geschieht. Verdammt, die haben überhaupt nichts getan. Die sind unschuldig. Wieso sollen die dafür zahlen, was wir tun? Die können sich nicht selbst verteidigen, manche von denen sind so klein, dass sie noch nicht mal sprechen können.« Er schloss die Augen. »Was ich mache, ich versuche, mich da hineinzuversetzen, mich in sie hineinzuversetzen, verstehen Sie? Um zu fühlen, wie ihnen zumute sein muss. Voller Angst und Schrecken. So ungefähr.«
»Vielleicht sollten Sie das lieber nicht tun, Macalvie.«
Macalvie betrachtete den Bodensatz in seinem Glas. »Die aber auch nicht.«
Dann herrschte Schweigen, während beide in den Spiegel starrten, aber nicht auf sich selbst und auch nicht aufeinander.
Jury sagte: »Als ich in Newcastle war, sah ich ein Gemälde mit dem Titel Die Schmetterlingsesser.«
Macalvie musterte ihn fragend.
»Darauf ist eine Familie abgebildet, die um einen Esstisch herumsteht oder sitzt. Der Tisch steht im hohen Gras oder in einem Sumpf, und jeder hat einen Schmetterling, entweder auf dem Teller oder hält ihn in die Luft. Die Augen sind bei allen dunkel und umschattet und starren einem aus dem Bild entgegen.« Jury trank einen Schluck von seinem Lager. »Was will der Maler damit sagen? Dass sie versuchen, sich Schönheit zu stehlen, es aber nicht können? Verspeisen sie eine Täuschung, fallen sie auf etwas Unwirkliches herein?«
Wieder Schweigen.
»Wieso erwähnen Sie dieses Bild?«
»Es erscheint mir relevant. Als täten wir nämlich genau das, als versuchten wir, Schmetterlinge zu verspeisen, als fielen wir auf Täuschungen herein.«
»Sie meinen, wir können nicht über sie hinaussehen?«
»Über sie hinaus oder durch sie hindurch. Ja.«
Sie tranken wieder schweigend.
Macalvie sagte: »Und was ist mit Declan Scott?«
»O, der ist noch viel mehr drauf reingefallen als wir.«
Ein schmaler Lichtstreif kam unter Wiggins’ Tür hervor. Wieso war der eigentlich immer noch auf?
Er »habe es auf der Brust«, kam die Erklärung. Unter dem weißen Laken liegend, das aufgeschlagene Buch über die Brust gebreitet, beantwortete er Jurys Frage.
»Die Temperatur hier drin mag für Kamele angenehm sein, Wiggins, aber nicht für menschliche Wesen. Kein Wunder, dass Sie es ›auf der Brust haben‹.« Gähnend ließ sich Jury am unteren Bettende nieder.
»Wie war London? Was war los?«
Jury erzählte es ihm. »Nicht nur ist Lena Banks Georgina, sie ist auch unsere geheimnisvolle Unbekannte. Sie ist unsere tote
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