Karparthianer 01 Mein dunkler Prinz
Gestern Abend trauerte er noch um seine Mutter, und jetzt ist er überzeugt, dass wir seine Feinde sind. Dabei ist er doch ein gebildeter Mann, Mikhail. Habe ich uns in Gefahr gebracht? Vielleicht habe ich irgendetwas 301
gesagt oder getan, das ihn misstrauisch gemacht hat.
Beruhigend schmiegte Mikhail das Kinn in ihr Haar. Nein, er hat die Aufzeichnungen seines Vaters gefunden.
Gestern empfand er noch kein Misstrauen, sondern nur Trauer. Seitdem hat ihn irgendetwas davon überzeugt, dass die Verdächtigungen seines Vaters begründet waren. Er glaubt, dass wir Vampire sind.
Ich bezweifle, dass ihm die Leute Glauben schenken werden, selbst wenn er ihnen die angeblichen Beweise zeigt. Man wird annehmen, er stehe noch unter Schock. Sie hatte nicht nur Angst um ihre und Mikhails Sicherheit, sondern auch um Rudys.
Mikhail streichelte zärtlich ihre Wange. Es sah ihr ähnlich, sogar Mitgefühl für einen Mann zu zeigen, der fest entschlossen war, sie umzubringen. Plötzlich zuckte Mikhail zusammen. Das Haus schien einen stummen Schrei auszu-stoßen, kurz bevor die erste Explosion die Stille zerriss. Über ihnen, im Erdgeschoss des Hauses, zerbarsten die Fensterscheiben. Die antiken Möbel splitterten. Ein Herzschlag, zwei Herzschläge, dann erschütterte die zweite Explosion die Mauern und zerschmetterte die Nordwand.
Mikhails Augen blitzten in der Dunkelheit, und in seinem leisen Knurren lag die Androhung grausamer Rache. Bei-
ßender Rauch drang durch die Decke ins Schlafzimmer unc sammelte sich zu einer dichten, bedrohlichen Wolke. In den oberen Stockwerken begannen die Flammen, Bücher unc Kunstwerke zu verschlingen. Rote und orangefarbene Zungen leckten gierig an den Besitztümern, die Mikhail währenc seines langen Lebens zusammengetragen hatte. Rudy war fest entschlossen, alles zu zerstören, da er nicht wusste, dass Mikhail viele Häuser und viele Schätze besaß.
Mikhail! Raven spürte seine Trauer über den Verlust seines liebsten Heims.
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Wir müssen nach unten gehen. Das Haus wird irgendwann einstürzen. Seine Stimme klang hart und bitter.
Raven versuchte, sich aufzusetzen, obwohl ihr jede Bewegung unendlich mühsam erschien. Nein, wir müssen das Haus verlassen. Wenn wir hinabsteigen, sitzen wir zwischen den Flammen und der Erde in der Falle.
Die Sonne steht zu hoch. Wir müssen uns in die Erde zurückziehen. Mikhail zog sie fester an sich, als könnte ihr seine Umarmung den Mut verleihen, sich dem Unausweichlichen zu stellen.
Du musst allein gehen, Mikhail. Raven hatte Angst. Im Augenblick war sie hilflos. Selbst wenn sie es schaffen wür-de, sich hinunter in den Keller zu schleppen, könnte sie sich niemals lebendigen Leibes begraben lassen. Sie würde den Verstand verlieren, ehe man sie an die Oberfläche zurückholte. Um keinen Preis würde sie es über sich bringen, doch es war wichtig, Mikhail dazu zu bewegen, in der Erde Zuflucht zu suchen. Er war wichtiger als sie, denn sein Volk brauchte ihn.
Wir gehen zusammen, meine Liebste. Mikhail ließ seine Stimme fest klingen, obwohl er sich alles andere als stark fühlte. Seine Glieder schienen bleischwer zu sein. Es kostete ihn viel Kraft, sich vom Bett rollen zu lassen, und er landete unsanft auf dem Boden. Komm, Raven, wir schaffen es.
Der Rauch wurde immer dichter, und im Zimmer war es heiß und stickig. Die Decke begann sich schwarz zu färben.
Raven tränten die Augen von dem beißenden Qualm.
Raven!, rief Mikhail gebieterisch.
Auch sie ließ sich vom Bett rollen, wobei ihr der Aufprall auf dem Boden den Atem nahm. Die Flammen breiten sich so schnell aus! Raven hatte schreckliche Angst.
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Rauch drang durch alle Ritzen, und über ihnen ächzte und stöhnte das Haus.
Mühsam schleppte sich Raven über den Boden, um zu Mikhail zu gelangen. Beide waren zu schwach, um sich auf Händen und Knien fortzubewegen, sondern arbeiteten sich auf dem Bauch liegend vorwärts, bis sie die versteckte Falltür erreicht hatten, die in das Kellergewölbe hinunterführte.
Raven hätte noch viel mehr auf sich genommen, um Mikhail in Sicherheit zu bringen.
Die Hitze des Feuers saugte die Luft aus dem Raum, sodass Raven und Mikhail kaum mehr atmen konnten. Ihre Lungen brannten. Selbst mit vereinten Kräften gelang es ihnen nicht, die schwere Falltür anzuheben. Konzentriere dich, wies Mikhail sie an, benutze deinen Willen.
Raven verdrängte alle anderen Gedanken und Gefühle, ihre Furcht, den Rauch, das Feuer, Mikhails Trauer und Wut über sein
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