Karparthianer 01 Mein dunkler Prinz
heilsame Erde hinein. Mikhail spürte ihren stummen Schrei, der in seinem Kopf widerhallte. Er wappnete sich gegen ihr Entsetzen und nutzte seine letzte Kraft dazu, die Erde über ihnen zu schließen. Es war ihm ein Leichtes gewesen, Ravens Absicht zu durchschauen. Sie wäre ihm niemals freiwillig gefolgt.
Raven schrie und schrie. Die Laute in seinem Kopf waren wild und durchdringend. Sie empfand nichts als reine, elementare Furcht und flehte ihn an, sie freizulassen, doch Mikhail konnte sie nur festhalten und versuchen, die heftigen Wellen ihres Schreckens abzufangen. In Ravens Kopf herrschten Panik und Chaos, und Mikhail war bis zum Äußersten erschöpft von der Anstrengung Raven und sich selbst in Sicherheit zu bringen.
In seinem langen Leben hatte Mikhail nie erfahren, was es bedeutete zu hassen. Doch während er hilflos in der Erde 309
lag, während sein Heim vernichtet wurde und seine Gefährtin an den Rand des Wahnsinns getrieben wurde, lernte er das Gefühl kennen. Einmal mehr hatte er für sie beide das Leben gewählt und Raven damit zu unendlichen Qualen verdammt. Wenn er ihr helfen wollte, musste er erst wieder zu Kräften kommen. Doch dazu war es nötig, dass er sich von ihr abwandte und sich dem heilenden Schlaf der Karpatianer anvertraute, damit die Erde ihn stärken und erfrischen konnte. Wieder bemächtigte sich seiner unbändiger Hass.
Raven. Selbst die Verbindung zu ihr aufrechtzuerhalten, wurde immer schwieriger. Kleines, verlangsame deinen Herzschlag, sodass er im Takt mit meinem ist. Du brauchst keine Luft. Versuche nicht zu atmen.
Sie konnte ihn nicht einmal hören, denn sie rang verzweifelt nach Sauerstoff. Neben ihrer Panik und hysterischen Furcht empfand Raven auch den Verrat, den Mikhail an ihr begangen hatte, indem er sie seinem Willen unterworfen hatte.
Mikhail widerstand der Versuchung, sich in den Schlaf zu flüchten, und blieb bei ihr und hielt sie fest, während sein Körper die heilenden Kräfte der Erde aufnahm. Er würde sie nicht allein lassen, solange sie glaubte, lebendig begraben worden zu sein, sondern war entschlossen, ihre Qualen zu teilen. Die chaotische Verwirrung ihres Geistes schien eine halbe Ewigkeit anzudauern. Schließlich war sie jedoch erschöpft, und die gellenden Schreie ihrer Seele verebbten.
Dann aber drohte sie zu ersticken. Schreckliche, gurgelnde Laute entrangen sich ihrer Kehle.
Raven!, ermahnte Mikhail sie streng. Ihre Furcht war so groß, und er verfügte nur über einen winzigen Bruchteil seiner Fähigkeiten. Er spürte, wie sich ihr die Kehle zuschnürte, und hörte ein Unheil verkündendes Rasseln in ihren Lungen. Sie erstickte.
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Für wenige Augenblicke Heß Mikhail ihren Geist los und erlaubte dem Erdreich, seine heilende, beruhigende Wirkung zu entfalten. Der Boden schien ihm ein leises Lied zu singen, während die Erde, die Wiege des karpatianischen Volkes, seinen Körper und Geist erfrischte. Sie verlieh ihm die Kraft, Ravens Qualen entgegenzutreten. Spüre mich, Kleines, spüre mich.
Nichts schien das Chaos in Ravens Geist durchdringen zu können.
Spüre mich, Raven. Komm zu mir. Er sprach ruhig und geduldig zu dem Aufruhr in ihrer Seele. Raven, du bist nicht allein. Spüre mich in deinem Geist. Sei still und suche nach mir, nur für einen einzigen Augenblick.
Vergiss alles andere.
Er nahm ihre ersten zaghaften Versuche wahr. Spüre mich, Raven. In dir, neben dir, um dich herum. Spüre mich.
Mikhail. Ihr Geist war zerrissen und zersplittert. Ich kann es nicht aushalten. Hilf mir. Ich kann es nicht tun, nicht einmal für dich.
Vertraue dich mir an. Eigentlich sprach er von der Heilkraft der Erde, vermied jedoch sorgfältig, sie daran zu erinnern, wo sie sich befanden. Mikhail ließ sie die Kraft fühlen, die von der Erde in seinen Körper floss, das Versprechen von Ruhe und Geborgenheit. Seine Gedanken füllte er mit Liebe, Wärme und dem Gefühl von Stärke. Sie musste an ihn glauben und sich mit ihm verbinden, damit auch sie die Wirkung der Erde spürte.
Raven war sicher, dass sie dabei war, den Verstand zu verlieren. Schon immer hatte sie sich vor dunklen, engen Orten gefürchtet. Es half ihr nicht, dass Mikhail ihr versicherte, sie brauche nicht zu atmen; sie musste es einfach tun. Erst nach mehreren anstrengenden Versuchen gelang es ihr, die Angst zu verdrängen, die schreckliche lähmende
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Panik und das Wissen, tief in der Erde begraben zu liegen.
Mit letzter Kraft fand sie die Verbindung zu Mikhail und zog sich
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