Karpfen, Glees und Gift im Bauch
werden. Seinen Anwalt hatte er bereits angerufen. Sie solle sich keine Sorge machen. Alles werde wieder gut.
Lin Sang griff heulend zum Telefon und rief Tang Kelin an. Er hörte ihr aufmerksam zu, ohne sie zu unterbrechen, und versprach ihr sofort zu helfen. In dreißig Minuten würde er sich wieder melden. In der Zwischenzeit solle sie sich ruhig verhalten und eine Reisetasche mit dem Nötigsten packen. Lin Sang fand keine Ruhe. Wie ein Tiger im Käfig lief sie im Wohnzimmer auf und ab. Nervös und ängstlich dachte sie daran, dass die deutschen Polizeibeamten jederzeit zurückkehren könnten, um auch sie zu verhaften. Mit zitternden Fingern griff sie sich eine von Tonis Marlboros, die auf dem Tisch lagen. Sie musste husten, als sie den Rauch inhalierte. Seit mehr als fünfzehn Jahren hatte sie nicht mehr geraucht. Eine viertel Stunde später lagen bereits vier Zigarettenkippen im Aschenbecher.
DasTelefon klingelte. Es war Tang Kelin.
»Lin Sang, hör zu! In circa zweieinhalb Stunden wird ein Mitarbeiter unseres Konsulats in München an deiner Wohnungstür klingeln. Er fährt einen schwarzen Audi A6 mit Münchner Nummer. Vertraue ihm und folge seinen Anweisungen. Er wird dich aus der Gefahrenzone bringen. In zwei Tagen bist du mit neuen Papieren wieder in Schanghai. Jetzt gilt es, Nerven zu bewahren! Behalte einen klaren Kopf. Keep cool, Mädchen! Die deutsche Polizei wird einige Zeit brauchen, um die Computercodes zu knacken. Niemand wird dich in der Zwischenzeit verdächtigen.«
Nach dem Telefonat ging es ihr gleich viel besser. Es klang alles so vernünftig und logisch, was Tang Kelin ihr am Telefon sagte. Sie würden sie rausholen! In zwei Tagen war sie wieder zuhause und hatte eine Menge Geld auf ihrem Konto. Andererseits, zweieinhalb Stunden konnten sehr lange sein, wenn man mit den Nerven am Ende war. Sie nahm ihre Reisetasche erneut zur Hand und packte nochmals um. Zweimal Unterwäsche, zwei Blusen, eine Jeans und eine Baumwollhose, einen Blazer, eine leichte Sportjacke, zwei Paar Schuhe, eine Strickjacke, Socken, Toilettenartikel. Sie war nervös. Rauchte noch eine Zigarette. Musste schon wieder auf die Toilette. Noch eineinhalb Stunden. Die Zeit kroch dahin. Scheißleben. Sie dachte nach, wie sie in diese missliche Situation geraten war. Tang Kelin hatte sie damals überredet. Er wollte unbedingt eine chinesische Vertrauensperson vor Ort haben. Er misstraute den Ausländern. Weder diesem hässlichen Menschen aus Waiblingen, ihrem Toni schon gleich gar nicht. Toni hatte sie am Anfang ja noch gereizt. Das war in Schanghai. Ein attraktiver Mann. Aber hier, in diesem deutschen Kaff – furchtbar. Sie brauchte nur an diese entsetzliche Veronika Sapper zu denken! Ihr ganzes Leben hier war beschissen. Ihr deutscher Freund zeigte sein wahres, provinzielles Gesicht. Außerdem zeigte es sich immer mehr, dass er ein einfacher, um nicht zu sagen eigentlich primitiver Mensch war. Viel Geist war bei ihm nicht vorhanden. Ständig musste sie mit ihm schlafen. Zum Schluss dachte sie nur noch an das Geld, welches sie verdienen würde. Mit ihm in die Kiste zu steigen, bereitete ihr in den letzten Wochen schon erhebliche Ekelgefühle. Vielleicht ist es ganz gut, dass der Handel mit dem FCKW jetzt aufgeflogen ist, dachte sie. Wenn alles gut geht! Wenn sie unbeschadet nach Schanghai zurückgekehrt war.
Sie sah erneut auf die Uhr. Noch fünfzehn Minuten. Besser sie ging nochmals pinkeln, bevor sie gleich unterwegs musste. Sie wusch sich die Hände. Sie hörte, wie die Türglocke anschlug. Gott sei Dank, das nervenaufreibende Warten hatte ein Ende. Ihr Retter aus München war da. Überpünktlich! Sie spülte die Toilette, griff sich ihre gepackte Reisetasche, eilte zur Tür und riss sie auf.
Wie von einer Gummiwand zurückgeworfen, wich Lin Sang zurück. Zwei alte Damen standen vor der Wohnungstür und lächelten sie an. Sie kannte die beiden. Was wollten die denn von ihr? Sie standen da, mit einem freundlichen »Ni Hao« auf den Lippen.
Wo blieb ihr Retter aus der Not, der Mann mit dem Audi A6 und dem Münchner Kennzeichen?
Überführt
»Grieß Godd, Lin Sang, mier sens, die Retta und die Kunni! Kennsd uns ja eh. Lang hasd uns hinders Lichd gfiehrd, abber edz semmer dier doch nu auf die Schlich kumma. Derf mer rei kumma?«
Lin San war geschockt. Wovon redeten die beiden alten Weiber?
Kunigunde Holzmann und Margarethe Bauer nutzten die Verwirrtheit der Chinesin aus und traten, ohne lange zu fragen, in die Wohnung.
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