Karriere oder Jakobsweg? Wegezeit - Wendezeit. Mein Weg nach Santiago De Compostela
Gebäuden, eine gotische Kirche, eine kleine Kapelle sowie zwei Restaurants bestimmen das Bild. Achtundzwanzig Einwohner sollen dort leben, das Bild wird aber eindeutig von den Pilgern beherrscht. Gu und ich betraten nun eines dieser Restaurants, weil wir einen Bärenhunger hatten, bis zum Abendessen konnten wir nicht warten. Der »café con leche«, ein Milchkaffee, sowie ein »bocadillo con jamon«, ein Schinkenbaquette, schmeckten köstlich. Beides wurde in den nächsten Wochen zu unseren Grundnahrungsmittel. Die Wärme der Gaststube, das rege Treiben und das gute Gefühl, etwas Großes geschafft zu haben, versetzten mich in eine wohlige Stimmung. Gu erging es nicht anders.
Um 19 Uhr war eine Pilgermesse in der Stiftskirche angesetzt, die wir auf keinen Fall verpassen wollten. Auf dem Weg dorthin sahen wir auf einmal den verunglückten Franzosen wieder. Er stand inmitten weiterer Franzosen, er stand! Wir blieben stehen und fragten ihn, wie es ihm gehe. Leider verstand er kein Englisch und mit meinem längst verschütteten Französisch konnte ich nichts ausrichten. Ein anderer Franzose übersetzte für uns ins Englische: Nachdem das Gitter auseinandergesägt worden war, war er schnellstmöglich transportiert worden. Gott sei Dank hatte er aber nur eine tiefere Fleischwunde am Unterschenkel und eine Zerrung und Prellung des Knies erlitten. Er wollte am nächsten Morgen auf jeden Fall weiterlaufen. Seiner eigenen Unachtsamkeit habe er diese missliche Lage zu verdanken gehabt. Beim Fotografieren des Rolandsbrunnens sei er rückwärtsgegangen und er habe nicht darauf geachtet, was hinter ihm gewesen sei. Jacques, so sein Name, sahen wir noch oft beim Fotografieren. Seine Kamera hatte er immer griffbereit, schnell noch ein Foto im Vorbeilaufen, so war er uns, ein vertrautes Bild auf dem Camino. Wir freuten uns mit ihm über diesen glimpflichen Ausgang.
Das Läuten der Glocken zeigte den Beginn der Messe an, wir fanden einen Platz mit guter Sicht auf den Altarraum. Um uns herum wurde es voller und voller, viele Pilger mussten stehen. Obwohl die Messe auf Spanisch gehalten wurde, waren mir die Abläufe sehr vertraut, es war eine katholische Messe. Wie so oft hatte ich das Gefühl nach Hause zu kommen, gepaart mit einer starken Sehnsucht nach etwas, was tief in mir verborgen war. Auch hier in dieser wunderschönen Stiftskirche spürte ich, wie so oft in Kirchen, ein Weinen in mir hochsteigen. Tränen schossen mir in die Augen und ich drückte Gu’s Hand ganz fest. Es hatte nichts mit Traurigkeit zu tun, sondern es war eher das Empfinden, Teil eines großen Ganzen zu sein. Gott war bei uns, in uns und um uns herum, dessen war ich mir sicher. Vor der Kommunion bat der Priester, auch in Englisch, sehr eindringlich darum, dass die heilige Kommunion nur von den katholischen Pilgern entgegengenommen werden sollte. Denn nur wir Katholiken würden daran glauben, beim Abendmahl mit der Hostie tatsächlich den Leib Christi zu uns zu nehmen, nicht sinnbildlich wie in den anderen Religionen. Gu als evangelischer Christ ging dennoch mit nach vorne. Seine Einstellung, dass jeder Christ dies für sich selbst entscheiden muss und nicht seine jeweilige Konfession mit ihren entsprechenden Glaubenssätzen entscheidend ist, kann ich gut nachvollziehen. Man entwickelt sich als Mensch auch in seiner Religion weiter. Es muss möglich sein, Einzelnes durchaus in Frage stellen zu können oder aber eine andere Haltung in bestimmten Punkten für sich einnehmen zu dürfen, ohne dass man gleich in eine Ecke gedrückt wird. Es ist nicht notwendig, sofort die Sinnhaftigkeit zu hinterfragen oder zu meinen, ein gesamtes Glaubenssystem würde dadurch in Frage gestellt. Am Ende der feierlichen Zeremonie bekamen wir alle den Pilgersegen, um wohlbehalten das Grab des heiligen Jakobus zu erreichen. Es war faszinierend zu hören, woher die Pilger kamen: Australien, Kanada, Brasilien, Spanien, Frankreich, Deutschland, Polen, Italien, Schweiz, Österreich, Niederlande, Belgien,... Nicht in alle Sprachen, aber doch in einige, auch in Deutsch, wurde er übersetzt. Es war erhebend, ein großartiger Moment.
Danach war Essenszeit, obwohl wir das bocadillo schon verspeist hatten, knurrten unsere Mägen schon wieder. Das Essen in der Jugendherberge war reichlich und lecker. An diesem Abend war Hans-Jakob unser Tischnachbar. Er erzählte, dass er katholischer Theologe sei. Bereits zum zweiten Mal war er unterwegs, wollte aber diesmal eine größere Wanderstrecke
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