Karriere oder Jakobsweg? Wegezeit - Wendezeit. Mein Weg nach Santiago De Compostela
einen Tisch gesetzt. Er parlierte munter in seiner Muttersprache, obwohl niemand spanisch sprach, außer Gu, der sich ein wenig mit ihm verständigen konnte. Interessanterweise war es dennoch nicht langweilig. Das Essen bestand aus reichlich Fleisch zum Hauptgang, anscheinend denken die Spanier, dass ein Pilger besonders viel Eiweiß braucht. Danach ließen wir fünf den Abend im Garten unter lauter bunten Glühbirnen mit rötlich-goldenem Himmel und bei Bier und Wein ausklingen. Unsere Unterhaltung kreiste vor allem um gesellschaftspolitische Themen.
Es ist schon spannend, dass uns alle die gleichen Dinge beschäftigten. Die zunehmende Globalisierung: Welchen Platz nehmen wir zukünftig in Europa ein und welchen Europa in der Welt? Wie entwickeln wir uns weiter, welche Werte bleiben und wie werden die Generationen miteinander umgehen? Es machte Spaß mit so lebenserfahrenen Männern diskutieren zu können.
Die Nacht war grausam, im wahrsten Sinne des Wortes. Es herrschte eine stickige Luft durch die vielen Menschen auf so engem Raum. Trotz Ohropax vernahm ich lautes Schnarchen. Es hörte sich an, als ob ganze Wälder im Traum zum Fallen gebracht würden. Ich schwitzte in meinem dicken Schlafsack sehr und traute mich dennoch nicht aus ihm heraus, getreu meinem Schwur. Gegen vier Uhr meldete sich meine Blase. Gut eine halbe Stunde rang ich damit aufzustehen, um mich zu erleichtern oder liegen zu bleiben, um niemanden zu stören und nicht in die kalte Nacht heraus zu müssen. Mein Anstand, dem Bettlaken aus Versehen nicht noch einen weiteren Fleck hinzuzufügen, siegte. Leise schälte ich mich aus dem Schlafsack, sorgsam darauf bedacht, ja nicht mit dem Laken in Berührung zu kommen sowie Toni unter mir nicht zu nahe zu treten, dann tappte ich leise die Treppe hinunter. Spätestens beim Öffnen der Tür weckte ich durch ein lautes Knarren zumindest die Schlafenden im Erdgeschoss. Vor der Tür umfing mich Mondlicht und leuchtete mir den Weg zur Toilette. Wie immer empfand ich Angst so allein, draußen bei Nacht. Ich dachte an irgendwelche Fabelwesen, die erscheinen könnten, um mich zu erschrecken. Seit meiner Kindheit verfolgen mich diese Fantasien. Kurze Zeit später lag ich wieder in meinem Brutkasten und schlief trotz der Hitze wieder ein.
3. Pilgertag, Donnerstag, 25. Mai 2006
Larrasoaña - Pamplona
Um 5.30 Uhr beendete ein Wecker jäh die Nacht. Dieses Phänomen sollte uns noch das ein oder andere Mal begleiten. Selbst die einsetzenden Unmutsäußerungen der anderen Pilger hielten diese Wahnsinnigen nicht davon ab. Offensichtlich konnten viele selbst auf diesem Weg nicht ihrer eigenen inneren Uhr vertrauen, das fand ich schade. Ich bin auch ein Frühaufsteher. Auf dem Weg gehörte ich immer zu denen, die früh unterwegs waren. Meine innere Uhr weckte mich immer zuverlässig im Zeitraum von fünf bis sechs. Später war es sogar so, dass ich zu der Zeit wach wurde, die ich mir vor dem Zubettgehen vorgenommen hatte. Gu und ich blieben dennoch liegen und dösten vor uns hin. Gegen halb sieben brachen wir auf.
Natürlich durfte der Tag nicht beginnen, ohne dass wir unseren heiß geliebten café con leche und unseren bocadillo zu uns genommen hatten. Unsere Kneipe vom Vortag wusste, was Pilger brauchen, und die Wirtsleute hatten sehr geschäftstüchtig bereits wieder geöffnet. Es herrschte eine wärmende, laute und herzliche Atmosphäre in der kleinen Gaststube. Englisch, Deutsch, Spanisch, Italienisch und Holländisch, ein buntes Gemisch an Sprachen war um uns herum, der Morgen begann heiter und schön. Dieses Ritual am Morgen genoss ich auf meiner Pilgerreise sehr und wurde fester Bestandteil des Tages. Es bildete einen kompletten Kontrast zu den Tagesanfängen von früher. Zu Hause, während der Arbeitswoche, hatte ich irgendwann das gemütliche Frühstücken verloren. Ich nahm mir nicht mehr die Zeit, bei einer dampfenden Tasse Kaffee, einem leckeren Brot und der Zeitung den Tag in Ruhe zu beginnen. Vielmehr hechtete ich in mein Auto, kaufte mir beim Bäcker um die Ecke ein belegtes Brötchen und einen Milchkaffee. Beides nahm ich unterwegs zu mir. Obwohl ich das als schlecht empfand, änderte ich es nicht. Während meiner Kindheit waren wir immer viele um den Frühstückstisch gewesen. Lag es daran? War es mir in meiner Küche zu still? Früher hatte ich aber doch auch allein gefrühstückt. Was war es dann? Ließ ich das Frühstück sausen, um morgens eher im Büro zu sein und die erste
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