Karriere oder Jakobsweg? Wegezeit - Wendezeit. Mein Weg nach Santiago De Compostela
unserem Trost klarte es auf, sodass wir bis weit in die Ebene von Roncesvalles blicken konnten. Das alte Kloster, unsere Herberge für die kommende Nacht, leuchtete uns in seinem Weiß schon entgegen, es war von dichtem Wald umgeben. Obwohl der Weg bis dorthin noch über eineinhalb Stunden dauern würde, war es wie ein Versprechen auf baldiges Ausruhen. Beim Abstieg begegneten wir zum ersten Mal Hans-Jakob. Wir verständigten uns kurz über den weiteren Weg. Hans-Jakob, ungefähr um die Mitte fünfzig, mit schlohweißem Haupt und Bart, sollte ein sehr wichtiger Weggefährte für uns, aber vor allem für mich, werden.
Die Natur, die wir jetzt wieder in ihrer vollen Pracht bewundern konnten, nahm uns mit ihrer Schönheit gefangen. Wir waren berührt und fühlten uns zutiefst glücklich. Die vielen Adrenalinstöße, die wir sicherlich bei der anstrengenden Pyrenäenüberquerung bekommen hatten, taten ihr Übriges. Bert und Theo überholten uns wieder einmal, diesmal blieb Theo aber stehen, deutete auf meinen Rucksack und meinte nur: »Mädel, der Rucksack sitzt nicht richtig. Wie du siehst, habe ich den gleichen, aber deiner schwankt in einer Tour hin und her. Du musst doch höllische Schmerzen haben. Darf ich dir eine bessere Einstellung zeigen?« Klar durfte er und danach ging es auch viel besser. Nun saß der Beckengurt viel höher und die Rückenlängsgurte waren entsprechend kürzer, das Gewicht war deshalb auf meinem Rücken optimaler verteilt. Ich war Theo dankbar.
Einige Minuten später konnten wir ein majestätisches Naturschauspiel betrachten. Zunächst sahen wir nur einen Adler, der sich mit den Windströmungen gleiten ließ. Kurz darauf sahen wir einen zweiten und dritten Adler, die den Wind nutzend, durch die Luft schwebten. Schließlich konnten wir im Tal acht dieser erhabenen Tiere beobachten. Bei unserem weiteren Abstieg schauten wir immer wieder zum Himmel hinauf. Welche grenzenlose Weite und Freiheit durch das Fliegen dieser Vögel zum Ausdruck kommt! Man bekommt solch eine Sehnsucht es ihnen gleichzutun. Der alte Menschheitstraum vom Fliegen...
Fast zeitgleich mit Theo und Bert kamen wir nach acht Stunden Wanderung ziemlich kaputt und müde in Roncesvalles an. Es gab dort zwei Möglichkeiten zu übernachten, im Kloster mit riesigem Schlafsaal oder in der ebenfalls im Gebäudekomplex befindlichen Jugendherberge. Wir entschieden uns für Letzteres, da wir dort bereits die Rucksäcke abgelegt hatten, bevor wir weitere Erkundungen machten. Wir waren einfach zu faul, noch ein paar Schritte weiterzugehen. Die Zimmer waren eisig, draußen pfiff der Wind um das alte Gemäuer. Die Zimmer bestanden aus jeweils zwei Stockbetten. Wir teilten unser Zimmer mit Fortina, einer Australierin, die zum In der Jugendherberge von zweiten Mal den Jakobsweg ging.
Beim ersten Herbergen Mal hatte ihr Weg von Roncesvalles nach Santiago geführt, nun war sie bereits seit 28 Tagen und über 700 km unterwegs. In Le Puy in Frankreich war sie gestartet. Es war beeindruckend, was diese kleine, zarte Frau uns von ihrer Reise berichtete. Sie strahlte eine Ruhe und große Herzlichkeit aus. Wir lernten noch viele Pilger kennen, die schon in ihrem Heimatland gestartet waren, Schweizer, Holländer, Franzosen, Deutsche, sogar einen Polen. Andere, wie auch Fortina, hatten als Startpunkt einen sehr geschichtsträchtigen Ort der Pilgerbewegung, wie Le Puy, Conques, Reims oder Lourdes, ausgewählt.
Theo, Bert, Hans-Jakob sowie Nele und Jörg, zwei junge Deutsche, mit denen wir auf der Etappe ebenfalls ins Gespräch gekommen waren, schliefen auch hier in der Jugendherberge. Wie fast in jeder anderen Herberge genauso üblich, waren Männer und Frauen nicht getrennt untergebracht, hier mussten wir uns allerdings auch die Toiletten und Duschen teilen. Im Vergleich zu vielen anderen Waschräumen, die ich später auf meinem Weg nutzen durfte, war dieser einer der komfortableren, obwohl ich es an diesem Spätnachmittag nicht so empfand. Trotzdem war die Dusche mit ihren heißen Wasserstrahlen eine einzige Wohltat für meinen geschundenen Körper. Ich genoss sie in vollen Zügen. Gu schmerzten nach wie vor Füße und Oberschenkel. Wir rieben uns gegenseitig die kritischen Stellen mit Tigerbalsam ein, dadurch konnten unsere Muskeln ein wenig entspannen.
Nachdem wir uns körperlich wieder einigermaßen in Form gebracht hatten, schauten wir uns Roncesvalles etwas näher an. Es ist kein Ort im üblichen Sinn: Die Abtei mit den einzelnen
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