Karriere oder Jakobsweg? Wegezeit - Wendezeit. Mein Weg nach Santiago De Compostela
dass er zum eigenen Schutz immer mehr abgestumpft sei. Er habe so viele Kameraden sterben gesehen, habe selbst Menschen erschossen und sei nicht nur einmal dem Tod entronnen. Er habe zum Schluss gar nichts mehr empfinden können. Irgendwann wusste er, dass er radikal umkehren müsse, bevor er sich ganz seelenlos fühlen würde. Über den Weg zur Kirche habe er den Glauben an sich selbst wiedergefunden und begriffen, dass er als Ausbilder auch Lehrer gewesen war und diese Berufung in friedlichen Zusammenhängen leben solle. Mike hatte es geschafft. Für uns war Mike eindrucksvolles Beispiel dafür, dass, egal welche Geschichte ein Mensch hinter sich hat oder wie sie ihn geprägt hat, es einen Ausweg, einen Neubeginn geben kann.
Nach Estella passierten wir eine gute halbe Stunde später das Kloster Santa Maria la Real de Irache. In der frühen Morgenstunde war die Klosterkirche noch verschlossen. Auch der berühmte Fuente del Vino, ein Weinbrunnen, an dem Pilger sich kostenlos mit einem Schluck Wein stärken können, war mit einem Vorhängeschloss gesichert. Trotzdem, der Gedanke an dieses freundliche Angebot weckte positive Energien.
In Azqueta machten wir mitten im Dorf eine kleine Pause, um zu frühstücken. Nach dieser ersten Wegstrecke schmeckten Brot, Käse und Schinken vorzüglich. Wir hätten auch nicht länger warten dürfen, denn wer so ganz ohne Frühstück in den Morgen startet, dem droht schnell eine Unterzuckerung. Im Dorf war es um diese Zeit am Sonntag noch ganz still, nur ab und zu wurden wir von einem Hund angekläfft. Villamayor de Monjardín, der nachfolgende Ort, war ein hübsches kleines Dorf. In der Iglesia de San Andrés zündeten wir Kerzen an und beteten ein Morgengebet.
Die weitere Strecke war leicht zu gehen, fast keine Steigung. Weinberge durchzogen die Getreidefelder sowie einzelne kleinere Wälder. Zum überwiegenden Teil war der Weg nach Villamayor aber baumlos, deshalb machten uns die höher steigenden Temperaturen umso mehr zu schaffen. Meine Beine fingen wieder an zu schmerzen. Die Krämpfe, die ich bisher meistens nachts im Liegen verspürt hatte, waren furchtbar. Ich schleppte mich nur so dahin. Gu versuchte mich zu motivieren, aber ich jammerte zwischendurch wie ein »altes Fischweib«. Die Sonne gewann immer mehr an Kraft und brannte auf unsere Schädel. Der Schweiß floss in Bächen unsere Körper entlang. Zum ersten Mal wünschte ich mich weit weg. Gu und ich mussten häufiger Pausen einschieben. Beim Gehen biss ich die Zähne zusammen. Die 10 Kilometer nach Los Arcos zogen sich endlos dahin. Die bezaubernde Landschaft um uns herum konnte mich nicht mehr aufheitern. Viele Pilger zogen an uns vorbei, bekannte und unbekannte Gesichter. Einige in blendender Verfassung, unterwegs mit schnellen, sicheren Schritten, andere langsam, aber stetig und wieder andere, die ähnlich wie ich mit ihren Schritten kämpften. Gu und ich hatten am Morgen noch überlegt, vielleicht sogar bis Torres del Río zu gehen, aber ich weigerte mich nun, nur einen Schritt weiter zu gehen als Los Arcos.
Die Herberge »Albuerge de la Fuente/Casa de Austria« lag ziemlich am Anfang des Ortes, dort bezogen wir Quartier. Wir hatten Glück und ergatterten noch ein Stockbett in einem Raum, in dem noch fünf weitere Stockbetten standen. Er lag ebenerdig, sodass wir unsere Rucksäcke nicht die Treppe hoch schleppen mussten. Da es noch nicht Siesta-Zeit war, gingen wir erst einmal für den nächsten Tag einkaufen, auch wollte ich noch in einer Apotheke für mich Magnesium besorgen.
Als wir den kleinen Laden verließen, kam Hans-Jakob die Gasse entlang und wir beschlossen, gemeinsam einen Kaffee zu trinken, da er noch weiter bis Torres del Río wandern wollte. Wie immer war das Gespräch mit Hans-Jakob ein Geschenk für den Tag. Wir verabschiedeten uns mit gegenseitigen guten Wünschen für den Rest der Reise. Es stand in den Sternen, ob und wann wir uns wiedersehen würden.
In der Herberge war große Wäsche angesagt: Körperwäsche und Kleidungswäsche. Gu und ich waren jedes Mal glücklich, wenn wir eine Waschmaschine in der Unterkunft vorfanden. Nichts war befriedigender, als die schweißdurchtränkte und stinkende Kleidung in eine Maschine zu stecken und sie duftend und gereinigt wieder herauszuholen. Wenn wir dann selbst sauber und erfrischt in die ebenfalls saubere Kleidung schlüpfen konnten, blieb nur noch wohlige Zufriedenheit. Es erinnerte mich an früher, wenn ich als kleines Kind am Samstag gebadet
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