Karriere oder Jakobsweg? Wegezeit - Wendezeit. Mein Weg nach Santiago De Compostela
ganz allein, ohne einer Menschenseele zu begegnen, in den Tag hineinzuwandern. In der Regel sprachen wir dann auch sehr wenig oder überhaupt nicht, doch heute war es anders. Gu’s Rucksack quietschte und durchbrach immer wieder vernehmlich die Stille. Gu fand dieses Geräusch zunehmend nervtötend und stoppte immer wieder, um seinen Rucksack zu untersuchen oder weil ich nachschauen sollte, woran es liegen könnte. Ständig wurden die Gurte verstellt, das Gepäck im Rucksack neu positioniert, um nach ein paar Metern festzustellen, dass das Quietschen immer noch da war. Seine Nerven waren deshalb eindeutig strapaziert und ich ließ mich davon anstecken. Der Weg nach Torres del Río gestaltete sich als schwieriger Start in den Tag. Umso schöner war es, als wir dort um 7 Uhr ankamen und eine wirklich schöne Bar bereits geöffnet hatte. Dort frühstückten wir in aller Ruhe, nach und nach trudelten auch andere Pilger ein, einige aus Los Arcos, andere hatten offensichtlich hier übernachtet. Die Bar lag direkt an der Iglesia del Santo Sepulcro, die noch nicht geöffnet war. Wir setzten uns mit einem zweiten café con leche auf ein Mäuerchen davor und ließen uns von den ersten Sonnenstrahlen wärmen. Als sich das skandinavische Pärchen dazu gesellte, wechselten wir zum ersten Mal mehr als die üblichen Begrüßungsworte. Sie waren gar kein Paar, sondern einfach nur gute Freunde und kamen aus Schweden. Michael hatte deutsche Eltern und sprach deswegen hervorragend deutsch. Wir plauderten in Englisch und zwischendurch auch mal in Deutsch. Malin hatte Michael überredet mitzukommen, da sie nicht allein gehen wollte. Sie war Mitte zwanzig, er dagegen über vierzig, beide machten auf uns einen offenen und sehr wachen Eindruck. Im Laufe des Tages trafen wir sie immer wieder und fast jedes Mal hielten wir ein kurzes Schwätzchen. Beide arbeiteten im psychosozialen Bereich. Michael leitet ein Heim für junge Frauen und Mädchen, die sich aufgrund von psychischen Problemen selbst erhebliche Verletzungen beibringen. Malin war nach ihrem Studium noch auf der Suche nach einer Festanstellung. Sie hatte so vieles über den Weg gehört, dass sie ihn unbedingt hatte gehen wollen und Michael hatte nach anfänglichem Zögern die Chance gesehen, Abstand zwischen sich und seine Arbeit zu legen, da er sich mehr und mehr ausgebrannt gefühlt hatte. Sie waren sehr schnell unterwegs, machten aber immer wieder große Pausen - ein Grund warum wir sie an diesem Tag nicht aus den Augen verloren.
Von Torres del Río bis nach Viana, der letzten Pilgerstation auf unserem Weg durch die Region Navarra, durchwanderten wir eine weitgehend schattenlose Landschaft. Wir waren sehr froh, dass die Sonne nicht so stark vom Himmel herunterbrannte wie am Vortag. Die Natur präsentierte uns ein Bild aus erdigen Farben mit grünen Tupfern durchsetzt. Über den Hügeln - Rioja und seine Weinberge waren spürbar - hob sich der Himmel in prächtigem Blau ab, immer wieder zogen weiße »Wattewolken« über uns hinweg. Die Wege waren oft steinig und dadurch sehr unbequem, unsere Wanderschuhe waren deshalb sehr nützlich. Gelegentlich mussten wir über asphaltierte Straßen gehen, auch das war nicht gerade eine Wohltat für Beine und Füße. Zwar machte sich vor allem mein rechtes Bein bemerkbar, dennoch ging es viel besser als am Vortag.
Viana erreichten wir gegen zehn, von Weitem hatten wir bereits die höher gelegene Altstadt erblicken können. Im Zentrum der Stadt legten wir unsere Rucksäcke ab und betraten das Innere einer wunderschönen alten Kirche, deren Portal für uns Pilger weit geöffnet war. Ein wunderbares Willkommen! Diese stillen Minuten, das Gebet, die Zwiesprache mit Gott, der eigenen Seele dabei nachzuspüren, waren jedes Mal wohltuend und Kraft spendend.
Auf dem Weg hinaus aus der Stadt stoppten wir nochmals auf einem Plateau vor der in Ruinen liegenden Kirche San Pedro; von dort hatten wir einen fantastischen Ausblick in Richtung Rioja. Der irische Lehrer, den wir in Puente la Reina kennen gelernt hatten, verwickelte uns auch diesmal in ein kurzweiliges, sehr interessantes Gespräch. Auf unsere Frage, mit wie vielen Schülern er unterwegs sei, antwortete er, mit acht Mädchen und vier Jungen, wobei, wie er betonte, die Mädchen um ein Vielfaches ambitionierter und sportlicher seien als die Jungen. Das konnten wir nur unterstreichen, die Mädchen hatten uns in den vergangenen Tagen immer wieder in einem sehr hohem Tempo überholt, die Jungen
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