Karriere oder Jakobsweg? Wegezeit - Wendezeit. Mein Weg nach Santiago De Compostela
romantische Drumherum genossen, aber die Frage: »Willst Du Deinen Mann lieben, achten und ehren, bis dass der Tod euch scheidet?« war mir an diesem Tag schon das Wichtigste gewesen. Auch wenn ich nach unserer Trennung versucht hatte, mir alles zu erklären, zu verstehen und daraus zu lernen, so war bis heute die Empfindung, gescheitert zu sein, in solchen Momenten wieder präsent. Als alle in der Kirche verschwunden waren und nur noch der aufwendig geschmückte Wagen an das Vorangegangene erinnerte, besuchten wir das nah gelegene Museo Gustavo de Maeztu, das im Palacio de los Reyes de Navarra untergebracht war. Die dort zu sehenden Ausstellungsstücke waren vielfältig und spiegelten vor allem die Geschichte von Estella als alte Pilgerstadt wider.
Danach war Zeit für das Abendessen. Wie schon in den vergangenen Tagen ließen wir uns durch die Tafeln mit der Aufschrift »menú del peregrino« leiten. Schließlich landeten wir in der kleinen Bar, in der wir morgens nach den Hostals gefragt hatten. Gu und ich hatten beide den Wunsch mit keinem Bekannten an einem Tisch zu sitzen, wir wollten neue Menschen kennen lernen. Unser Wunsch wurde erhört, die Wirtin ließ uns an einem Tisch Platz nehmen, an dem schon der rasende Pilger, dem wir am Vormittag schon begegnet waren, saß. Mike, so sein Name, kam aus Schottland, lebte aber in England. Auf seine Fitness angesprochen, erklärte er uns, dass er fünfundzwanzig Jahre bei der englischen Armee gedient habe, lange Jahre als Ausbilder einer Eliteeinheit. »Jetzt, mit 45 Jahren, beginne ich ein neues Leben«, erzählte er uns. »Nach all den gefährlichen Einsätzen in Afrika, im Kosovo und im ersten Irakkrieg habe ich mich nicht mehr als Mensch gefühlt. Durch das ständige Unterwegssein waren keine Wurzeln mehr vorhanden, meine Ehe ist daran zerbrochen. Nach meinem Abschied aus der Berufsarmee habe ich studiert und bin nun ausgebildeter Lehrer. Den Jakobsweg gehe ich, weil ich im Begriff bin, Katholik zu werden.« Gu und ich waren von Mikes Lebensgeschichte sehr beeindruckt. Welche Erlebnisse wohl hinter ihm liegen mussten? In welche Abgründe hatte er schon blicken müssen? Nun saß ein ruhiger, zurückhaltender und doch offener Mensch vor uns, der für sich einen ganz neuen Weg gewählt hatte. Es war auch ein Weg zu Gott. Mike sahen wir nach diesem interessanten Abend nie wieder. Seine Geschwindigkeit ließ ihn uns davoneilen.
Vor dem Schlafengehen tranken wir noch einen Vino Tinto. Immer noch war der Platz voller Menschen. Auf der Bühne wurde spanische Musik gespielt und viele tanzten dazu. Kinder drehten sich im Takt der Musik, Eltern schauten stolz lächelnd zu. Dieses pulsierende Leben zu spüren, zu genießen und in sich aufzusaugen, war etwas, was mir sehr gefiel. Wie oft hatte ich mir auf meinen beruflichen Reisen, aber auch zu Hause in Münster gewünscht, mehr Zeit für den Alltag einer Stadt zu haben. Jetzt hatte ich alle Zeit der Welt. Ungeniert konnte ich meiner Leidenschaft frönen, Menschen zu beobachten. Ich konnte mir Geschichten über sie ausdenken oder mir vorstellen, was sie gerade bewegte. Ich konnte versuchen, die Beziehungen der Einzelnen untereinander wahrzunehmen. Für mich war dies pure Lebensfreude.
Gegen elf gingen wir hoch in unser Zimmer und schliefen trotz des Lebens, das durch unser Fenster drang, sofort ein. Allerdings nur bis Mitternacht, denn dann wurde plötzlich die Musik auf der Bühne um einige Dezibel verstärkt. Ohrenbetäubend schallte sie zu uns herauf. Das gefiel uns überhaupt nicht mehr. Nach einem kurzen Blick auf den Platz konnten wir feststellen, dass anscheinend die gesamte Jugend der Stadt auf den Beinen war. Bis 4.30 Uhr tobte auf dem Platz und in den Gassen das pralle Leben, an Schlaf war nicht zu denken, selbst Ohropax half nicht. Gu und ich warfen uns von einer Seite auf die andere. Auch nachdem die Musik nicht mehr spielte, konnte von Nachtruhe keine Rede sein. Um kurz vor sechs standen wir auf, müde, gerädert und leicht genervt.
6. Pilgertag, Sonntag, 28. Mai 2006
Estella - Los Arcos
Der kühle Morgen, erfüllt mit Vogelgezwitscher, versöhnte uns ein wenig mit der Nacht. Meine Beine fühlten sich fit an und nichts erinnerte an die Krämpfe vom Tag zuvor. Gu und ich ließen den Samstag noch einmal Revue passieren, Mike beschäftigte uns noch immer. Die Begegnung mit ihm hatte Spuren hinterlassen, da waren wir uns einig. Er hatte uns erzählt, dass er den Tod in so vielen Facetten erlebt habe,
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