Karriere oder Jakobsweg? Wegezeit - Wendezeit. Mein Weg nach Santiago De Compostela
sie nur, seit einer halben Stunde habe ich jeden Zentimeter da drinnen abgesucht, nichts! Vielleicht ist jemand nun mit meinen Schuhen unterwegs. Was soll ich nur tun?« Einige beruhigten ihn und fragten, ob sie ihm bei der Suche nicht helfen sollten, vielleicht hätte er sie in der Aufregung übersehen. Wir kamen ebenfalls mit, kurze Zeit später fanden wir sie tatsächlich. Er hatte sie durch den Schmutz nicht erkannt. Welch eine Erleichterung! Paolo strahlte und gleichzeitig entschuldigte er sich wortreich für die Aufregung. Wir alle hatten Verständnis - nicht auszudenken, wenn die eigenen Schuhe abhandenkommen.
Heute wollten wir über Santa Domingo de la Calzada nach Grañón wandern, insgesamt um die 28 km. Hans-Jakob hatte uns von diesem Ort und seiner Herberge erzählt. Sie war nämlich in der Kirche des Dorfes untergebracht. In unserem Führer war sogar beschrieben, dass man dort gemeinsam das Abendessen einnahm und auch eine Pilgerandacht gefeiert wurde. Gu und ich wollten unbedingt dorthin.
Nach gut einer Dreiviertelstunde erreichten wir Azofra. Ein kleines gemütliches Dörfchen, in dem es schon sehr lebendig zuging. Vor einer Bar sahen wir viele Rucksäcke stehen, ein um diese Zeit untrügliches Zeichen für ein ausgezeichnetes Frühstück. In der Bar klang uns munteres Stimmengewirr entgegen und köstlicher Kaffeeduft wehte uns um die Nase. Wir setzten uns zu zwei Frauen, an deren Tisch noch zwei Plätze frei waren. Beide kannten wir vom Sehen, die eine war die Frau mit dem Trolley. Ihr Name war Michaela, eine gebürtige Rumänin, die in den USA, in Miami, lebt. Die andere junge Frau, um Ende 20, wirkte auf uns sehr naturverbunden, sie sah aus wie aus einem Cowboy-Film entsprungen, allerdings ohne die typischen Requisiten. Minka kam aus Kanada. Natürlich tauschten wir unsere bisherigen Erfahrungen aus, aber wir konnten es uns nicht verkneifen, Michaela zu fragen, wann sie das letzte Mal ihren Rucksack geschoben habe. Sie lachte, wurde aber dennoch ein wenig verlegen und meinte, dass es eine ganz blöde Idee gewesen sei, sich diese Art von Rucksack zu kaufen, da er bisher nur ganz selten als schiebendes Transportmittel brauchbar gewesen sei. Die meiste Zeit sei es schlicht unmöglich gewesen, ihn zu ziehen, oder aber sie sei von Pilgern oder Einheimischen mit Blicken verfolgt worden. Diese Blicke, oft eine Mischung aus Verwunderung, Unglauben, Spott und Missfallen, hätten ihr am meisten zugesetzt, deshalb habe sie es mit der Zeit gelassen. Wir mussten alle schmunzeln, auch solche Geschichten machen den Weg einzigartig. Wir verließen gemeinsam die Bar und trennten uns bald mit einem »buen camino«. Der eigene Rhythmus bestimmte wieder den Weg.
Das Laufen an diesem Morgen war mühelos, wir waren schnell und beschwerdefrei unterwegs. Das sollte an diesem Tag so bleiben. Auch das Wetter war schön, die Sonne brannte nicht so heiß vom Himmel wie bisher, dicke weiße Wolken waren zu sehen. Der Wind pustete uns durch, ohne uns frösteln zu lassen. Er blies warm und sanft. Es war gut, dass die Sonne immer wieder hinter den Wolken verschwand, denn die Strecke bot kaum Schatten. Die Temperatur war sehr angenehm, einfach ideales Wetter zum Wandern. Auch die Landschaft war beeindruckend. Die Hochebene des Rioja Alta ließ uns immer wieder weit den Blick schweifen. Die Aussichten waren zum Teil atemberaubend.
Je weiter wir kamen, desto häufiger wurden die Weinhänge von Getreidefeldern abgelöst, die mit ihrem Grün in einem wunderbaren Kontrast zum weiß-blauen Himmel standen, dazu die erdigen Töne der Feldwege, auf denen wir liefen. Zum Teil wurden die Felder bewässert und unter den Bewässerungsanlagen bildeten sich kleine Regenbögen, die im Licht der Sonne zusätzlich glitzerten. Gu und ich waren so beschwingt, dass wir sangen und pfiffen. »Ehre sei Gott in der Höhe«, »schalom chaverim«, »Halleluja«, diese drei Lieder wiederholten wir immer wieder. Das Singen und Pfeifen löste zusätzliche Glücksgefühle in uns aus, wir waren mit der Natur und mit allem um uns herum im Einklang.
Vor Ciruena war der Weg nicht mehr so leicht zu erkennen, da anscheinend eine komplette Wohnsiedlung neu gebaut wurde. Wir liefen durch eine riesige Baustelle und versuchten immer wieder den gelben Pfeil auszumachen. Wir hatten Glück, dass auch andere Pilger in unserer Nähe waren, gegenseitig halfen wir uns, den richtigen Pfad zu finden. Nachdem wir das alte Dorf hinter uns gelassen hatten, stießen wir auf
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