Karriere oder Jakobsweg? Wegezeit - Wendezeit. Mein Weg nach Santiago De Compostela
aufbewahrt werden. Es war kalt und roch muffig. Ich musste sofort wieder nach oben, mir behagte die Situation dort unten überhaupt nicht. Ich blieb lieber noch ein paar Minuten für mich und setzte mich zum Gebet in eine der Bänke, um mich zu entspannen.
Wir verließen Santo Domingo am frühen Nachmittag und überquerten beim Verlassen der Stadt den träge dahin fließenden Río Oja. Der Weg verlief als Schotterweg neben der Bundesstraße. Die Geräusche der vorbeifahrenden Autos bekamen wir natürlich mit, aber zumindest waren wir durch Bäume und Sträucher von der Straße abgeschirmt.
Als wir Grañón in der Ferne erblickten, gabelte sich der Weg. Wir konnten zwischen zwei Varianten auswählen, einer längeren und schöneren, die durch Felder verlief und einer kürzeren, etwas gefährlicheren, die an der Straße entlangführte. Wir entschieden uns für den schöneren Weg. Hüfthoch bewegte sich der Weizen neben uns im Wind, der Wind strich über unsere Gesichter, ein tiefes Glücksgefühl breitete sich in uns aus. Wir fühlten uns ganz eins mit der Natur. Irgendwann machte Pfad eine Rechtskurve und führte uns an ein besonders schönes Fleckchen. Rechts und links des Weges standen mächtige Pappeln, die im Wind rauschten und uns ihr Lied zusäuselten. Ein kleiner Bach floss vorbei und murmelte leise vor sich hin. Das Getreide raschelte vor sich hin und um uns herum war die Atmosphäre angefüllt mit dem Gesang der Vögel. Es war eine zauberhafte Stimmung. Am Wegesrand standen einige Bänke, die uns einluden nochmals zu pausieren, zu ruhen und zu picknicken. Wir waren nicht allein, eine ältere Pilgerin, die uns freundlich anlächelte, hatte bereits Platz genommen. Höflich fragten wir auf Englisch, ob wir stören würden, was sie verneinte. Gu packte unseren Proviant aus und bereitete unsere Mahlzeit vor. Wie immer richtete er Brot, Schinken, Salami und Tomaten appetitlich an.
Wir luden die Frau ein, die aber auf Deutsch dankend ablehnte. Obwohl sie gut deutsch sprach, hörte ich ihrem Akzent an, dass sie aus Italien kommen musste. Da ich mit 22 Jahren für ein halbes Jahr in Italien ein Praktikum absolviert habe, sind mir die Klänge der italienischen Sprache immer noch wohl vertraut, auch wenn heute der größte Teil meiner Kenntnisse verschüttet ist. Tatsächlich, Gabriella, so ihr Name, stammte aus Imola und hatte lange in der Schweiz gearbeitet. Sie machte einen sehr sympathischen und aufgeschlossenen Eindruck. Mit ihrem flotten, blonden Kurzhaarschnitt wirkte sie jung und voller Tatendrang. In ihrer Wanderkluft sah sie gepflegt und schick, fast schon elegant aus. Wie alt mochte sie sein? Vielleicht Ende fünfzig, Anfang sechzig? Wenig später schulterte sie ihren Rucksack, sie wollte ebenfalls in Grañón übernachten. Wir freuten uns, sie später wiederzusehen. Als sie weiterlief, sah man, dass sie leicht humpelte.
Gu und ich blieben fast eine halbe Stunde unter den Bäumen sitzen und genossen die einzigartige Stimmung. Ich hatte das Gefühl, Raum und Zeit um mich herum zu verlieren, ich lebte ganz im Augenblick. Zum ersten Mal dachte ich nicht daran, was vor mir liegen könnte. Nichts drängte mich, um mich herum nahm ich nur die Natur wahr. Wie würde ich empfinden, wenn die fünf Wochen vorüber waren, welche Veränderungen würden spürbar sein? Da waren sie wieder, diese Fragen, die doch das Morgen einschlossen. Egal, ich fühlte mich hier, genau an dieser Stelle und zu diesem Zeitpunkt unglaublich jung und frei! Und ich war von großer Liebe erfüllt, zärtlich schaute ich Gu an und war dankbar, dass er an meiner Seite war. Wir trennten uns nur ungern von unserer kleinen Lichtung, sie war irgendwie magisch. Ein Platz voller Kraft und positiver Energien. Gu und ich waren uns einig, dass es bisher unser schönster Tag der Reise war.
Wenig später erreichten wir Grañón. Vor der Kirche war ein kleiner Garten angelegt, in dem einige Pilger in der Sonne saßen. Sie waren keine Unbekannten für uns, drei Italiener und eine Italienerin in unserem Alter. Loredana hatte eine tiefe, sehr erotische Stimme, die so gar nicht zu ihrem Äußeren passte. Sie war klein, wohlproportioniert und ein totales Energiebündel. Die drei Männer waren Polizisten und entsprechend trainiert. Die vier waren immer zusammen anzutreffen, obwohl nicht ersichtlich war, ob sie sich erst hier kennen gelernt hatten oder sich bereits von zu Hause kannten. Wir hatten bemerkt, dass Walter und Mirella oft in Begleitung der kleinen
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