Karriere oder Jakobsweg? Wegezeit - Wendezeit. Mein Weg nach Santiago De Compostela
Truppe waren und tatsächlich trafen wir sie später.
In der Herberge, deren Räume seitlich oberhalb des Kirchenschiffes lagen, empfing uns ein deutscher Herbergsvater. Eigentlich nichts Ungewöhnliches, viele Herbergen werden durch ausländische Gesellschaften unterstützt oder sogar geleitet, hier war es die fränkische St. Jakobusgesellschaft. Es war schön, alles in unserer Muttersprache erklärt zu bekommen. Wir schliefen in einem Raum auf halber Höhe der Treppe. Dünne Ledermatratzen, die ähnlich aussahen wie die Unterlagen früher im Schulsportunterricht, würden in dieser Nacht unser Bettenlager sein. Dicht an dicht lagen sie, dicke Staubflocken flogen zwischen ihnen umher. Neben uns lagen offenbar Vater und Tochter. Ihn schätzte ich auf mindestens 75 Jahre, sie war in meinem Alter. Vor dem Mann konnte ich nur meinen Hut ziehen, in seinem Alter diese Strapazen auf sich zu nehmen, das verdiente Hochachtung. Auch Erni und Toni sowie Paolo waren hier. Gabriella, die wir zuvor kennengelernt hatten, trafen wir, wie angekündigt, ebenfalls hier an. Es war schön, so viele vertraute Gesichter wiederzusehen.
Nachdem wir das Nachtquartier aufgeschlagen und geduscht hatten, gingen wir in den Gemeinschaftsraum. Der Raum war wie ein riesiges, sehr gemütliches Wohnzimmer eingerichtet. Hinten links in der Ecke standen einige Sessel vor einem großen Kamin. Rechts vor der gesamten Fensterfront, von wo man gut auf die gegenüberliegenden Häuser hinunterblicken konnte, war ein langer, sehr breiter Tisch aufgestellt. Trotzdem war mir schleierhaft, wie wir alle an diesem Tisch Platz haben sollten. Mittlerweile waren wir sicherlich dreißig Pilger und es kamen immer wieder neue hinzu. Unser Raum war bereits voll, sodass die Neuankömmlinge im Chorgestühl der Kirche ihr Matratzenlager aufschlugen - nicht ohne die Ermahnung sich entsprechend leise und respektvoll dort oben zu verhalten. Ich muss zugeben, ich war zum ersten Mal neidisch. Wie gerne hätte ich in dieser Nacht dort oben geschlafen. Von dort konnte man den gesamten Kirchenraum überblicken. Was für ein Gefühl musste das sein, im Haus Gottes eine Nacht verbringen zu dürfen. Die Plätze wurden nun aber mal der Reihe nach vergeben, wir waren einfach zu früh gewesen.
Der Herbergsvater hatte die italienischen Pilger zu den Küchenchefs des Tages gemacht, nach ihren Anweisungen sollten wir kochen. Der gemeinsame Einkauf dafür war kurzweilig. Es sollte Gemüserisotto, dazu Salat und zum Nachtisch einen großen Obstsalat geben, ein leckeres Kontrastprogramm zu den bisherigen Pilgermenüs. Schräg gegenüber vom Lebensmittelladen war eine Bäckerei, in der wir für den nächsten Tag das Brot einkaufen wollten. Als wir eintraten, fühlte ich mich in eine andere Welt hineinversetzt. Wir standen mitten im Geschehen, Laden und Backstube waren eins, es sah aus wie in früheren Zeiten. Aus einem gerade geöffneten Ofen wurden mit einem Holzschieber Brotlaibe herausgeholt. Backbleche mit köstlichsten Plätzchen lagen überall aus. Der Duft, der in dieser Backstube allgegenwärtig war, ließ uns das Wasser im Munde zusammenlaufen. Noch nie hatte ich eine Bäckerei als sinnlich empfunden, doch hier wurden alle meine Sinne angeregt.
Die Zeit bis zum Kochen nutzten wir, indem wir in der Sonne sitzend einen Kaffee tranken, Tagebuch schrieben und mit Erni und Toni plauderten, die mit einem Landsmann, Georg, am Nebentisch Platz genommen hatten. Wie immer tauschten wir unsere Erfahrungen aus und berichteten von unseren Wehwehchen und Schmerzen. Erni hatte dicke Blasen. Sie mussten höllisch weh tun, aber Erni schilderte nur sehr sachlich ihre Versorgungsmaßnahmen und ließ sich über Weiteres nicht aus. Erni fragte mich, ob wir Kinder hätten, ich verneinte mit Bedauern und erzählte ihr, dass Gu und ich uns ein Kind wünschen würden. Sie lächelte mir ermunternd zu und meinte: »Nimm es einfach als gutes Omen, dass euch so viele Störche begegnen. Hier nisten sie ja auch schon wieder. Ich wünsche es euch von Herzen.« Diese Anteilnahme und Bereitschaft auf andere Pilger einzugehen -wie Erni es getan hatte - ist auf dem Weg sehr häufig anzutreffen. Ich habe sie immer als kleine Geschenke für den Tag empfunden.
Als wir hochkamen, waren die Vorbereitungen für das Essen schon in vollem Gange. Gu und ich reihten uns bei den Obstschnipslern ein. Mir gegenüber saß eine Brasilianerin, die um die fünfzig sein musste und mit ihren großen braunen Kulleraugen einen warmen und
Weitere Kostenlose Bücher