Karriere oder Jakobsweg? Wegezeit - Wendezeit. Mein Weg nach Santiago De Compostela
idyllischen Gebiet in die Nähe der viel befahrenen Hauptstraße. Dort machten wir zum ersten Mal Bekanntschaft mit einem weiteren Pilgerritual. Vorher war uns bereits das Ritual aufgefallen, dass auf den steinernen Wegmarkierungen oder unterhalb von Wegkreuzen Stein auf Stein geschichtet worden war. Kleine Steinhaufen, pyramidengleich, waren das Ergebnis. Die Steine wurden als Zeichen des Dankes oder verbunden mit einem Wunsch von den Pilgern abgelegt. Jetzt sahen wir Hunderte von Kreuzen, eingebunden in den Maschendrahtzaun, der parallel zur Straße verlief. Die Kreuze waren aus Reisig oder dünnen Ästen gebastelt und schienen mit dem Zaun verwoben. Fast einen Kilometer lang war die Strecke dieser Kreuze. Es war ein eindrückliches Bild, die Kreuze wirkten zerbrechlich und verletzlich, dennoch hatten sie Halt und Festigkeit.
Seltsamerweise habe ich selbst auf den Wegmarkierungen nie einen Stein abgelegt oder auch nur ein einziges Mal ein Kreuz in einen Zaun hineingeflochten. Warum nicht? Eigentlich gefielen mir diese Rituale, bei den Steinen waren zudem manchmal Grußbotschaften von Pilger zu Pilger hinterlegt. Warum also nicht? In der Kirche zündete ich doch auch eine Kerze zum Dank oder zur Bitte an. Was hat mich davon abgehalten? Ich glaube, es war der Drang auf dem Weg weiter voranzukommen, mich nicht beim Gehen aufhalten zu lassen. Es gab doch schon so viel zu sehen und zu verarbeiten. Ich wollte mich nicht zusätzlich mit etwas auseinandersetzen oder länger beschäftigen. Ich kannte mich, ich würde sehr sorgfältig einen Stein auswählen und ihn dann mit Andacht ablegen, ein Kreuz wäre trotz meiner geringen handwerklichen oder bastlerischen Fähigkeiten ein ordentliches Kreuz geworden und mit einem Gebet an seinen Platz gebracht worden. So viel Zeit hatte ich nicht, ich wollte vorwärtskommen. Ich war im Aufbruch begriffen und wollte mich nicht aufhalten lassen.
Navarrete tauchte vor uns auf, schon von Weitem konnte man das Dorf über die Felder hinweg gut erkennen, es lag leicht erhöht. Am Ortseingang von Navarrete passierten wir die Ruinen des Pilgerhospitals San Juan de Acre. Gu und ich stellten uns die Pilger im Mittelalter vor, unter wie viel schlechteren Bedingungen sie unterwegs gewesen waren: Sie hatten keinen Hightech-Rucksack, sondern ein Stoffbündel; Sandalen statt Wanderschuhe; keine Multifunktionswäsche oder -kleidung, sondern schwere handgesponnene Baumwoll- oder Wollkleidung; kein Handy für Notfälle, sondern sie mussten Angst vor Räubern und Wegelagerern haben. Hauptsächlich Männer waren gepilgert, keine oder nur wenige Frauen. Sicherlich hatten ihnen gelbe Pfeile auf Bäumen, Häusern oder Straßen nicht als Wegweiser gedient. Herbergen, gut organisiert und regelmäßig an der Strecke gelegen, mit ausreichender Bettenzahl, diesen Luxus hatten sie nicht gekannt. Jetzt vor diesen Mauerresten waren wir sehr dankbar für die Annehmlichkeiten, unsere Zipperlein konnten wir mit diesen Gedanken bestens wegstecken. In der Altstadt von Navarrete frühstückten wir wieder einmal in aller Ruhe. Die Sonne beschien den Vorplatz der kleinen Bar und wir sahen die Pilger nach und nach an uns vorbeiziehen oder sie legten ebenfalls für einen Kaffee eine Pause ein. Bevor wir das Dorf verließen, beteten wir in der Iglesia de la Asunción das Morgengebet und wanderten doppelt gestärkt weiter.
Das Gehen fiel mir entschieden leichter als die Tage vorher, auch Gu ging es gut. Waren unsere Schmerzen jetzt vorbei, hatten wir uns nun an die Strapazen gewöhnt?
Wir liefen durch endlose Weinberge. Die rote Erde, in der die Weinstöcke verwurzelt waren, leuchtete durch das Grün der Weinblätter und bildete dazu einen satten Kontrast. Es ging immer wieder leicht auf und ab, über uns der endlose blaue Himmel. Kornblumen, Klatschmohn und viele andere Wildblumen verschwendeten wieder am Wegesrand ihre ganze Pracht, Bienen umschwirrten die Blüten, ab und zu rotierte auch eine Libelle an uns vorbei.
Irgendwann konnten wir Nájera in der Ferne liegen sehen. Es dauerte aber noch sehr lange, bis wir das Ziel dieses Tages, die Herberge in der Altstadt, erreichen sollten. Die Weinfelder reichten bis in die Vororte der Stadt, immer wieder durch kleine Industrieanlagen unterbrochen. An einer Betonwand sahen wir in einiger Entfernung zwei Erwachsene und ein kleines Kind stehen. Als wir sie erreichten, erkannten wir, dass es sich ebenfalls um Pilger handelte. Das Kind war ein vielleicht drei- oder vierjähriges
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