Karriere oder Jakobsweg? Wegezeit - Wendezeit. Mein Weg nach Santiago De Compostela
nach Geschlechtern getrennt, einzig Ehepaare durften in einem Raum zusammenschlafen. Ansonsten schliefen die Frauen im Untergeschoss, die Männer im ersten Stock. Alles war einfach und sehr sauber. Der Schlafsaal war sehr voll und nur noch wenige Betten waren frei.
Nach einem schnellen Mittagessen im Schatten der Kathedrale gingen Gabriella und ich zu einem Krankenhaus, dessen Adresse wir von den Schwestern bekommen hatten. Es war wesentlich näher als die Alternative, von der es hieß, dort würden Pilger kostenlos behandelt werden. Dort angekommen eröffnete mir Gabriella, dass sie sich nicht untersuchen lassen würde: »Ich fahre nach Hause, daran besteht für mich kein Zweifel mehr. Es reicht, wenn die Ärzte dort an meinen Wunden herumdoktern.« »Warum bist du mitgekommen?«, fragte ich sie. »Ich wollte sichergehen, dass du dich untersuchen lässt und du vernünftig bist«, war ihre schlichte Antwort. Ihre Fürsorge rührte mich, ich drückte fest ihre Hand. Wenig später verließen wir das Krankenhaus, ich war vom rechten Knie an abwärts in strahlendem Weiß bandagiert, nur meine Zehen schauten munter heraus. Die Ärztin hatte mir in einem leidlichen Englisch erklärt, dass meine Fibrillen innerhalb des Muskels durchtrennt seien und so der Muskel nicht mehr ausreichend versorgt wäre. Nur Ruhe und Schonung würden Abhilfe leisten. Auf meine Frage, wann ich wieder on Tour gehen könne, hatte sie erwidert, dass es nur von meiner Disziplin hinsichtlich der Schonung abhängen würde. Nach drei Tagen dürfe ich zur Kontrolle wiederkommen und dann würde man weitersehen. Ich erhielt einen neuen Termin am Montag, dem 12. Juni, um 9 Uhr.
Ich traf die Entscheidung, diese Situation von ganzem Herzen anzunehmen und die positiven Seiten daran zu sehen. Ich war mir sicher, viele Pilger wiederzusehen, alleine das war es schon wert! Außerdem war ich in Leon! Laut Reiseführer einer der einladendsten Orte am Camino Francés und letzter kultureller Höhepunkt vor Santiago. Trotz meines Handicaps würde ich sicherlich einen Eindruck von der Stadt gewinnen können.
19. und 20. Pilgertag, Samstag und Sonntag, 10.-11. Juni 2006
León
Die Spanier feiern einfach gern, machen dabei die Nacht zum Tag und halten sich aufgrund des schönen Wetters am liebsten draußen auf den Plätzen ihrer Stadt auf. Vor dem Fenster des Schlafsaals hatte die ganze Nacht das pralle Leben getobt: Vespas fuhren über das Kopfsteinpflaster, Musik ertönte quer über den Platz bis zu unserem Fenster, Gläser klirrten und gingen zu Bruch sowie lautes Lachen und angeregte Gespräche klangen zu uns herüber. Nach der Pilgermesse im Konvent des Klosters, die leider wenig emotional und sehr sachlich ablief, war pünktlich um 22.30 Uhr das Tor zur Herberge abgeschlossen worden. Die müden Pilger sollen schließlich ihr Haupt zur Ruhe betten. Gebettet
haben wir unsere Häupter, ruhen war allerdings nur bedingt möglich. Die folgende Nacht sollte genauso wie die vorherige werden, es war Wochenende!
Gabriella und ich waren schon am Abend der Ankunft in einen anderen Schlafsaal gezogen, anscheinend wurden dort die Pilgerinnen, die aufgrund ihrer Blessuren zu einem längeren Aufenthalt gezwungen waren, untergebracht. Er war genauso groß wie der andere und von den 15 bis 20 Stockbetten waren vielleicht sechs besetzt. Am nächsten Morgen bekamen wir deshalb von der Hektik des morgendlichen Aufbruchs nichts mit.
Ein erstes Geschenk in meiner unglücklichen Situation hatte ich bereits am Tag vorher erhalten: Steffi hatte den Entschluss gefasst, einen Tag wanderfrei zu machen. Sie war seit Genf ohne Unterbrechung gelaufen. Sie wollte sich Ruhe gönnen, León näher kennen lernen und mir Gesellschaft leisten. Ich fand das wunderbar, weil Gabriella mit der Organisation ihrer Rückreise beschäftigt sein würde und ich so in meinem »Elend« jemand anderen an meiner Seite hatte.
Auf dem Weg zum Stadtkern an diesem frühen Morgen wurden wir - Gabriella, Steffi und ich sowie Karin aus München, die sich uns angeschlossen hatte - noch einmal mit den Folgen der Nacht konfrontiert. Überall lagen Zigarettenkippen, Papierservietten, Pappteller und -becher, zerbrochenes Glas und weiterer Unrat. Müllmänner waren damit beschäftigt, den ganzen Dreck mit Wasser wegzuspritzen und zusammenzubringen, um dann einen großen Haufen zu beseitigen. Die kleineren Müllmengen verschwanden in der Kanalisation. Unmengen von Wasser wurden dabei verwendet. Die
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