Karriere oder Jakobsweg? Wegezeit - Wendezeit. Mein Weg nach Santiago De Compostela
habe mir aber vorhin auf dem Weg hierher im Taxi gewünscht, dass du mit mir nach León fährst und jetzt bist du da!« Ich entgegnete ihr, dass ich mir am Morgen gewünscht hatte, sie wiederzusehen, dass es so schnell in Erfüllung gehen würde, hätte ich nie im Leben gedacht. Wir beide waren uns darüber einig, dass jemand seine Finger im Spiel gehabt haben musste. Es war Gottes Wille und wieder einmal bekam ich den Beweis, dass ich durch das Loslassen des einen etwas anderes geschenkt bekam. Gabriella und ich waren nicht die Einzigen, die am Bahnhof auf den Zug nach León warteten. Ein älterer Herr, den ich schon oft gesehen hatte, weil er zu den Franzosen gehörte und häufig mit Jacques, dem Unglücksraben vom ersten Tag, zusammen war. Auch sie waren gestern wieder in der Herberge. Zu meinem Erstaunen konnte er Deutsch, da er aus dem Eisass stammte. Er hatte schon seit Tagen Probleme mit seiner Wade und wollte genau wie wir in León zum Arzt. Er schloss sich unserem »Versehrten-Express« an. Im Zug saßen wir allerdings getrennt, er war brechend voll. Die Dreiviertelstunde, die der Zug benötigte, verging auf der einen Seite schnell, auf der anderen Seite war genug Zeit, um mich wieder mit Gedanken zu quälen. Ich haderte immer noch ein wenig mit meinem Entschluss, wobei es ja eigentlich gar keine freie Entscheidung mehr für mich gewesen war. Mein Körper hatte gestreikt und auf ganzer Linie gesiegt, mein Instinkt hatte dabei über meinen Willen triumphiert.
Wir fuhren durch sehr karge Landschaften und von Zeit zu Zeit konnte ich in der Feme Pilger wahrnehmen. Ich schaute und schaute. Zwei Tage Wandern, die ich nun verpassen sollte, versuchte ich in diese schnell dahingehenden Minuten zu erfassen. Was hätte ich erlebt in diesen Tagen? Was hätte ich gesehen? Wem wäre ich begegnet? Diese Fragen machten mir bewusst, dass ich hier unter diesen Umständen Gabriella und Henri begegnet war und ich diese Zugreise als Geschenk annehmen sollte. Je näher wir unserem Ziel kamen und die Kilometer nur so dahinschwanden, desto klarer wurde mir, welche Leistung wir Pilger jeden Tag erbrachten, wie viel Zeit wir uns schenkten, was wir alles sehen und erleben durften in unserer Langsamkeit. Hier im Zug ging es dämm, schnell von A nach B zu kommen, auf dem Pilgerweg hingegen dämm, das Leben zu entschleunigen. Langsam zu sein, dann und wann innezuhalten, sich Schritt für Schritt mehr Gelassenheit und Ruhe zu erobern. Hatte ich das bereits erreicht? Nein. Immer mal wieder, aber nicht oft genug und schon gar nicht kontinuierlich. Ich war immer noch im Aufbruch, nach wie vor schleppte ich alte Gewohnheiten und Verhaltensweisen mit mir hemm. Wann würde ich den Weg finden, der mich zur Ruhe kommen lassen sollte? Wann würde ich meinen ganz eigenen Weg finden?
Der Bahnhof in León war ziemlich weit weg von der Herberge, die mitten im Zentrum lag. Wäre ich alleine gewesen, hätte ich mir ein Taxi genommen, doch in Gegenwart von Gabriella und Henri traute ich mich nicht. Ich vermutete zwar, dass es ihnen umgekehrt genauso ging, aber als Jüngste wollte ich mir keine Blöße geben. Also schleppten wir uns dahin, dazu kam, dass wir am Anfang weder einen gelben Pfeil, noch ein Muschelzeichen fanden. Wir fragten uns durch, aber unsere Spanischkenntnisse bescherten uns den einen oder anderen Umweg. Irgendwann nach über einer halben Stunde standen wir vor der Herberge Alberge de las Carbajalas, die von Benediktinerinnen geführt wird und an das Kloster angrenzt. Durch ein großes, altes Holztor kommt man in einen schattigen, überdachten Innenhof, am anderen Ende steht einladend ein großer Tisch. Dort hatten schon zahlreiche Pilger Platz genommen oder standen in kleinen Gruppen herum. Es waren so viele darunter, die ich lange nicht gesehen hatte und unter normalen Umständen nicht wiedergetroffen hätte. Welch eine Freude, auch für Gabriella, denn die netten Italiener waren ebenfalls dabei: Walter und Mirella, die wir zu Anfang für ein Ehepaar gehalten hatten, die drei feschen Polizisten und Loredana mit der tiefen Stimme. Steffi, die kleine Schweizerin, Michaela aus Rumänien und viele bekannte Spanier hießen uns willkommen. Nachdem sie von unseren Blessuren erfahren hatten, wurden wir mit guten Ratschlägen überhäuft und natürlich auch kräftig bemitleidet. Es war Balsam für unsere Seelen, gleichzeitig meldete sich aber die alte Pilgerscham wieder. Immer diese widerstreitenden Gefühlswelten!
Die Unterkunft war strikt
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